Racheherz - Roman
unbekümmert mit den inneren Organen umgehen wird, als seien es die Innereien eines Truthahns, der zu Thanksgiving gebraten wird. Zwischen denen, die aufschneiden würden, und dem, der aufgeschnitten würde, fand zwangsläufig eine soziale Abgrenzung statt.
Mit Ausnahme von Hobb konnte Ryan nicht ohne weiteres erkennen, wer sich unter den Hauben, hinter den Masken und in den grünen OP-Klamotten verbarg. Sie hätten durchaus alle ausgetauscht worden sein können, die Ersatzmannschaft, die eingeschleust worden war, nachdem die Spitzenmannschaft gutgeheißen und in Rechnung gestellt worden war.
Während der Anästhesist eine Vene in Ryans rechtem Arm fand und eine Kanüle einführte, teilte Dr. Hobb ihm mit, das Spenderherz sei vor wenigen Momenten erfolgreich herausoperiert worden und läge nun in einer gekühlten Salzlösung bereit.
Ryan hatte im Medijet erfahren, dass er das Herz einer Frau erhalten würde, was ihn nur im ersten Moment überrascht hatte. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt gewesen, eine Lehrerin, die bei einem Autounfall ein schweres Schädeltrauma erlitten hatte.
Ihr Herz war für groß genug befunden worden. Der Gewebeabgleich war positiv verlaufen, was die Chancen beträchtlich erhöhte, dass nicht nur während der Operation alles gutgehen würde, sondern auch hinterher, weil sein Körper vermutlich weniger dazu neigen würde, das neue Organ aggressiv abzustoßen.
Trotzdem würde er, um eine Abstoßung und andere Komplikationen zu vermeiden, nach der Operation über einen längeren Zeitraum eine Batterie von achtundzwanzig Medikamenten einnehmen müssen, einige davon sogar für den Rest seines Lebens.
Während sie Ryan bereitmachten, erklärte ihm Dr. Hobb den Zweck jeder Prozedur, aber Ryan brauchte nicht weiter besänftigt zu werden. Jetzt gab es sowieso kein Zurück mehr. Das gewünschte Herz stand zur Verfügung, die Spenderin war tot und vor ihm lag ein einziger Weg in die Zukunft.
Er schloss die Augen, blendete die gemurmelten Gespräche der Mitglieder des Teams aus und dachte an Samantha Reach. Als Jugendlicher und Erwachsener war er stets auf der Suche nach Perfektion gewesen, nach Vollendung, und ein einziges Mal hatte er sie gefunden - in ihr.
Er konnte nur hoffen, dass sie auch ganz und gar versöhnlich sein würde. Eigentlich sollte er jetzt gleich damit beginnen, sich einen guten Einstieg für seinen ersten Anruf bei ihr zu überlegen, sobald er stark genug und sein Kopf wieder so klar war, dass er mit ihr sprechen konnte.
Als er die Augen schloss, sah er sie am Strand, blondes Haar und eine goldfarbene perfekte Figur, wie eine verlockende Oase auf dem breiten, leicht zum Wasser abfallenden sonnendurchglühten Sand.
Als der künstlich herbeigeführte Schlaf ihn überkam, glitt er hinab wie in ein Meer, und die Dunkelheit verfinsterte sich zu etwas noch Dunklerem.
TEIL II
Jetzt naht der Abend des Verstandes.
Leuchtkäfer zucken schon im Blut.
- Donald Justice: »Der Abend des Verstandes«
32
Zum ersten Jahrestag seiner Herztransplantation wollte Ryan Perry kein Fest geben. Zur Feier des Tages genügte es, dass er überhaupt noch am Leben war.
Im Laufe des Vormittags arbeitete er allein in der Garage und nahm einen Routine-Check an einem funkelnden und blitzenden 1932er Deuce Coupé mit fünf Fenstern vor, das er auf einer Auktion erstanden hatte.
Am Nachmittag machte er es sich in dem kleineren der beiden Wohnzimmer in einem Sessel mit Fußstütze bequem und las in Samanthas erstem Buch weiter.
Der Raum war eingerichtet wie ein Wintergarten und erzeugte eine Atmosphäre, die zu der Stimmung in dem Roman passte. Durch die hohen Fenster sah man einen weichen, grauen Himmel, ein schlappes Kissen, das mit nassen Daunen von Graugänsen gefüllt war. Nadeln aus Regen strickten hier und da Schals aus dünnem Nebel zusammen, die dann durch den nächsten Baum oder Strauch, an dem sie hängen blieben, wieder aufgedröselt wurden.
Die zahlreichen Palmen und Farnsträucher im Raum überzogen den Kalksteinboden mit einem Netz aus spinnenartigen Schatten. Die Luft roch grün und fruchtbar, und meist war dieser Duft angenehm, nur gelegentlich stieg ein schwacher Gestank auf, der vielleicht auf sich zersetzendes Moos oder Wurzelfäule zurückzuführen war und den er seltsamerweise immer nur dann wahrnahm, wenn er Passagen las, die ihn besonders verstörten.
Sie hatte dem Roman leisen Humor eingehaucht und die Liebe erwies sich als eines ihrer zentralen Themen, wie er intuitiv
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