Racheherz - Roman
Glasscheibe erreicht hatte, sah er keine Spur mehr von einem Eindringling.
Durch den Nieselregen bewegte sich auf dem breiten Rasenstück im Süden seines Anwesens nichts anderes als sich windende Anacondas aus Nebel.
Nach einem Jahr, das in ganz gewöhnlichen Bahnen verlaufen war, hätte Ryan die flüchtige Vision als eine Täuschung der Dämmerung abgetan.
Aber die Gestalt tauchte wieder auf. Sie trat zwischen drei Himalajazedern heraus, die mit ihren hängenden Ästen selbst wie riesige Mönche bei einem feierlichen Zeremoniell wirkten. Langsam kam die Gestalt in Sicht und blieb dann stehen, auch diesmal wieder dem Wintergarten zugewandt.
Da es minütlich dunkler wurde, enthüllte der dahinschwindende Tag noch weniger von dem Gesicht als vorher, obwohl sich der Eindringling jetzt etwa drei Meter näher an das Haus herangewagt hatte.
In dem Moment, als Ryan klarwurde, dass es nicht unbedingt ratsam war, ungeschützt an einem beleuchteten Fenster zu stehen, wandte sich die Gestalt ab und trat über den Rasen ihren Rückzug an. Sie schien sich nicht mit Schritten zu entfernen, sondern zu gleiten, als sei auch sie nichts als Nebel, wenn auch von einer dunkleren Sorte.
Die Mischung aus Dämmerung, Dunst und Regen verdichtete sich schnell zur Nacht. Der Eindringling tauchte nicht noch einmal auf.
Die Gärtner erhielten an Regentagen ihren vollen Lohn, fanden sich jedoch nicht zur Arbeit ein. Allerdings konnte Henry Sorne, der Chef der Landschaftsgärtner, dem Grundstück einen Besuch abgestattet haben, um die Abflüsse der Rasenflächen zu überprüfen, da einige von ihnen, weil sie von Laub verstopft wurden, bei früheren Unwettern übergegangen waren.
Aber das war nicht Henry Sorne gewesen. Die Statur der Gestalt und die Anmut, mit der sie sich in dem unförmigen
Mantel bewegt hatte, aber auch etwas an der Haltung, in der sie dagestanden und zum Fenster geblickt hatte, überzeugten Ryan davon, dass es sich bei dem Eindringling um eine Frau gehandelt hatte.
Penelope Amory und ihre Assistentin Jordana waren die einzigen Frauen unter den Hausangestellten. Keine von beiden hätte einen Grund gehabt, die Rasenflächen zu inspizieren, und ihm schien auch keine von beiden der Typ zu sein, der an einem regnerischen Tag für einen Spaziergang zu haben war.
Das Gelände war ummauert. Das elektrische Bronzetor schloss sich automatisch, nachdem man durchgefahren war, und man konnte es nicht versehentlich offen stehen lassen. Weder an den Mauern noch an den Toren konnte man leicht hinaufsteigen.
Die beiden Tore, durch die man zu Fuß hereinkam, hatten elektronische Schlösser, die man entweder vom Haus aus öffnen konnte oder durch die Eingabe eines Codes in die Tastenfelder auf der Außenseite, doch das Tor der Auffahrt ließ sich auch durch eine Fernbedienung öffnen. Außer dem Personal hatte nur ein einziger Mensch jemals eine Fernbedienung für das Tor gehabt.
Als er jetzt am Fenster des Wintergartens stand und nichts anderes als sein eigenes Spiegelbild in dem nachtschwarzen Glas sah, flüsterte Ryan: »Samantha?«
Nach dem Abendessen nahm Ryan Sams Buch mit nach oben, da er die Absicht hatte, im Bett noch ein oder zwei Kapitel zu lesen und vielleicht darüber einzuschlafen, obwohl
er bezweifelte, dass ihre Worte ihn einlullen würden - selbst beim zweiten Lesen.
Wie üblich hatte Penelope am früheren Abend die gesteppte Tagesdecke weggenommen und seine Bettdecke für die Nacht zurückgeschlagen. Wie er es mochte, hatte sie eine Lampe brennen lassen.
Auf seinem Stapel aufgeschüttelter Kopfkissen lag eine kleine Zellophantüte, die mit einem roten Band verschnürt war. Penelope ließ keine Süßigkeiten auf seinem Kopfkissen zurück, und genau das enthielt die kleine Tüte.
Es waren nicht die hauchzarten Minztäfelchen und auch keine zwei Pralinen von Godiva, wie Zimmermädchen sie oft auf Hotelkopfkissen zurücklassen. Die Tüte enthielt winzige weiße Zuckerherzen mit einem kurzen neckischen Aufdruck in roten Buchstaben auf einer Seite. Diese Süßigkeit, wurde nur in der Zeit vor dem Valentinstag verkauft, der in knapp einem Monat war.
Versonnen drehte Ryan die knisternde Tüte in seiner Hand. Ihm fiel auf, dass alle Botschaften, die für ihn sichtbar waren, gleich lauteten: SEI MEIN.
Wie er noch aus seiner Jugend wusste, trugen die Zuckerherzen in den Originaltüten, in denen man sie verkaufte, verschiedene Aufdrucke: NUR DU, SEI LIEB, ZU SÜSS, KÜSS MICH und andere.
Um Herzen zusammen zu bringen,
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