Racheherz - Roman
bewahrte Ryan eine 9mm-Pistole und eine Schachtel Munition auf. An jenem Abend lud er die Pistole, bevor er ins Bett ging. Jetzt lag sie in der halboffenen Schublade des Nachttischs.
Er hätte einiges anführen können, das gegen ihn sprach, etwa, dass seine Ängste vor einer Verschwörung in den Monaten, die zu der Transplantation geführt hatten, nicht die Folge von geistiger Verwirrung in Verbindung mit verminderter Blutzufuhr zum Gehirn und auch nicht die Nebenwirkung von verschreibungspflichtigen Medikamenten waren. Vielmehr konnte man behaupten, dass sie einer verhängnisvollen Neigung zum Argwohn entsprangen, die er sein Leben lang gehabt hatte. Wenn man in jungen Jahren lernte, seinen Eltern nicht zu trauen, konnte Misstrauen zu einem Schlüsselelement der Lebensphilosophie werden.
Und wenn diese Selbstbezichtigung die reine Wahrheit war, musste er sich einem Rückfall in die Paranoia widersetzen. Vielleicht sollte der erste Schritt seines Widerstandes darin bestehen, dass er die Pistole sofort und nicht erst am Morgen wieder in den Safe legte.
Er ließ sie in der Nachttischschublade.
Kein unerklärliches Klopfen war zu vernehmen. Ryan lag
auf seiner rechten Seite, das Ohr auf dem Kissen, und lauschte auf das langsame, stetige Schlagen seines gesunden Herzens.
Bald schlief er ein. Er träumte nicht.
Er erwachte erst spät am Morgen und teilte Mrs Amory über die Haussprechanlage mit, dass er das Mittagessen um ein Uhr im Wintergarten einzunehmen gedachte.
Als er geduscht, rasiert und angezogen war, legte er sowohl die Pistole als auch die Tüte mit den Zuckerherzen in den verborgenen Safe.
Das Unwetter war am Vorabend vorübergezogen. Aber von Nordwesten zog eine neue Unwetterfront auf und im Laufe des Nachmittags stand Regen zu erwarten. Als Penelope ihm das Mittagessen auf dem Tisch im Wintergarten servierte, fragte Ryan sie, ob sie am vergangenen Abend Süßigkeiten auf seinem Kopfkissen zurückgelassen hätte. Er erwähnte jedoch nicht, dass es kleine Herzen waren.
Trotz ihrer Begabung, ihre englischen Eigenheiten zu übertreiben, ohne auch nur ein einziges Mal aus der Rolle zu fallen, kam sie ihm nicht wie eine Frau vor, die lügen konnte, ohne sich durch zahllose nervöse Ticks und andere Anzeichen zu verraten. Die Frage schien sie erst zu verwirren und ihr dann ein ebenso großes Rätsel wie Ryan aufzugeben. Denn wie konnte es jemand für angemessen halten, ihn in seinem eigenen Haus wie einen Hotelgast zu behandeln?
Nach dem Mittagessen, als sie zurückkam, um den Tisch abzuräumen, sagte sie, sie hätte die Süßigkeiten gegenüber
Jordana und Winston erwähnt und sie sei ziemlich sicher, keiner von beiden sei für diesen vielleicht gut gemeinten, aber unentschuldbaren Vorfall verantwortlich. Mit Winstons Assistent Ricardo hatte sie nicht gesprochen, da er am Vortag frei gehabt hatte und nicht dafür verantwortlich gewesen sein konnte.
Ein Monteur des Kundendienstes der Firma, die die Klimaanlage wartete, war im Haus gewesen und hatte im zweiten Stockwerk Filter ausgetauscht. Und ein Elektriker hatte den Einbaukühlschrank in dem Alkoven von Ryans Suite repariert. Mrs Amory wünschte zu wissen, ob sie die Firmen kontaktieren und sich vergewissern sollte, dass keiner von beiden der Übeltäter gewesen war.
Die Intensität ihres grauäugigen Blicks und ein gewisser Zug um ihren Mund herum deuteten an, dass sie diesen Zwischenfall als einen Angriff auf ihre Autorität und als eine persönliche Kränkung ansah, für die sie den Missetäter, falls das nötig sein sollte, mit Vergnügen bis an die Tore der Hölle verfolgen und ihm eine Rüge erteilen würde, die ihn härter treffen würde als die Folterqualen, die ihn in den Flammen der Verdammnis erwarteten.
»Es ist lobenswert«, sagte Ryan beschwichtigend, »dass Sie so engagiert nach einer Erklärung suchen. Aber so wichtig ist es nun auch wieder nicht, Penelope. Lassen Sie uns diesen Vorfall nicht an die große Glocke hängen. Jemand muss sich einen Scherz erlaubt haben, das ist alles.«
»Sie können sich darauf verlassen, dass ich diese Herren im Auge behalten werde, wenn sie das nächste Mal ins Haus kommen«, sagte sie.
»Daran habe ich keinen Zweifel«, sagte er. »Nicht den geringsten Zweifel.«
Als er wieder allein im Wintergarten war, kehrte er zu seinem Lieblingssessel zurück und schlug Samanthas Buch auf, um es ein drittes Mal zu lesen.
Um Viertel nach zwei setzte der Regen ein. Wie schon am Vortag war die Natur zur
Weitere Kostenlose Bücher