Racheherz - Roman
Danach hatte er Menschenmengen aufgrund der Sorge gemieden, die Immunsuppressiva würden ihn anfälliger für Erkältungen und Grippe machen, die er unter Umständen nicht so leicht wieder loswürde. Schließlich hatte er nicht mehr aus medizinischer Notwendigkeit viel Zeit zu Hause verbracht, sondern weil er in seiner momentanen Verfassung einsame Beschäftigungen vorzog.
Die Leute hier drängelten und rempelten nicht, sondern schlenderten entspannt und gemächlich durch das Labyrinth des Einkaufszentrums. Trotzdem erschienen ihm diese Menschen wie voranstürmende Legionen, ein surrender Schwarm,
eine außerirdische Spezies, die ihn zu irgendeinem Bienenkorb mitreißen würde, aus dem es kein Entrinnen gab. Auf dem Weg zum Parkplatz widerstand er den klaustrophobischen Anwandlungen, die ihn trotz der frischen Luft überkamen, denn wenn er sich ihnen überlassen hätte, wäre er Hals über Kopf davongestürzt.
Der riesige Parkplatz war zwar gerammelt voll, doch es herrschte weitgehend Ruhe und Stille dort. Um diese nachmittägliche Stunde waren die meisten Menschen, die vorhatten, shoppen zu gehen, bereits eingetroffen; und da das Wetter noch zwei Stunden ideal für einen Schaufensterbummel sein würde, waren die wenigsten bereit, jetzt schon nach Hause zu gehen.
Als er die Reihe fand, in der er geparkt hatte, und auf sein Deuce Coupé zuging, grübelte Ryan über den Ausdruck, den er in Samanthas Augen gesehen hatte. Er hatte geglaubt, sie bemitleide ihn, aber jetzt hatte er in seinem Elend den Verdacht, es sei etwas noch Schlimmeres als Mitleid gewesen.
Mitleid ist Schmerz, den man fühlt, wenn man das Leid anderer sieht, verbunden mit dem Wunsch zu helfen. Aber Samantha konnte ihm nicht helfen; das hatte sie deutlich klargestellt. Was er in ihren Augen gesehen hatte, erschien ihm eher wie Bedauern, das zwar so zärtlich wie Mitleid sein kann, aber eine Form der Anteilnahme für Hoffnungslose ist, für diejenigen, an die man nicht herankommt und denen nicht zu helfen ist.
Plötzlich empfand er die Sonne als bedrückend, ebenso das grelle Funkeln der Autoscheiben, die Hitze, die von den geparkten Autos aufstieg, den Geruch nach Teer, den der heiße Asphalt verströmte, und er wäre gern wieder zu Hause in der Kühle seines Wintergartens gewesen.
»Hallo«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Hallo, hallo.«
Als er sich umdrehte, entdeckte er die Asiatin mit dem Strauß von blassrosa Lilien. Sie war schätzungsweise Mitte zwanzig, klein und zierlich, auffallend hübsch, und hatte langes, schimmerndes schwarzes Haar. Keine reine Asiatin, sondern Eurasierin, mit meergrünen Augen.
»Sie kennen sie, Sie kennen die Autorin«, sagte sie in akzentfreiem Englisch.
Wenn er sie schroff abfertigte, würde seine Grobheit auf Sam zurückfallen, und daher sagte er: »Ja. Ich kenne sie. Von früher.«
»Sie ist eine sehr gute Schriftstellerin, so begabt.«
»Ja, das ist sie ganz gewiss. Ich wünschte, ich besäße ihr Talent.«
»So mitfühlend«, sagte die Frau und trat näher. Ihr Blick war auf das Buch gerichtet, das er in der Hand hielt.
»Entschuldigen Sie«, sagte Ryan, »aber ich fürchte, ich muss jetzt losfahren, ich bin schon spät dran.«
»Ein bemerkenswertes Buch, voller tiefer Einsichten.«
»Ja, das ist es, aber wie gesagt, ich bin spät dran.«
Sie hielt ihm die Lilien mit beiden Händen entgegen. »Hier. Ich kann den Kummer sehen, der zwischen ihr und Ihnen steht. Sie brauchen diese Blumen mehr als ich.«
Verblüfft sagte er: »Oh, nein, das kann ich nicht annehmen.«
»Doch, bitte, Sie müssen sie annehmen«, sagte sie und drückte sie so beharrlich gegen seine Brust, dass eine schwere Blüte von ihrem Stängel abbrach und auf den Asphalt fiel.
Aggressive Pollen von den Staubblättern reizten seine Nase und Ryan sagte völlig ratlos: »Nein, verstehen Sie, da, wo ich hingehe, kann ich sie nicht ins Wasser stellen.«
»Hier, hier, Sie müssen sie annehmen«, sagte sie, und wenn er den knisternden Zellophantrichter nicht mit seiner freien Hand genommen hätte, hätte sie die Blumen auf den Boden fallen lassen.
Obwohl er die Lilien angenommen hatte, versuchte er immer noch, sie ihr zurückzugeben.
Plötzlich kam es ihm vor, als sei er versengt worden. Ein Brennen zog sich über seine linke Körperseite. Im nächsten Moment folgte ein stechenderer Schmerz, der heftige Schock einer Schnittwunde - und erst dann sah er das Klappmesser.
Als Ryan die Lilien und das Buch aus den Händen fielen, sagte
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