Racheherz - Roman
nach etwas gesucht, das augenscheinlich nicht da war. Dabei hätte er sich vielleicht eher mit dem auseinandersetzen sollen, was tatsächlich zu sehen war.
Jetzt wählte er aus, was vor mehr als achtundvierzig Stunden von der ersten der beiden Kameras, die auf den Rasen südlich seines Anwesens gerichtet waren, in der Abenddämmerung aufgezeichnet worden war. Er sah es sich in Echtzeit an, denn im Schnellvorlauf flogen viele Einzelheiten unbemerkt vorüber.
Wieder bildeten der Nieselregen, die sich schlängelnden Nebelfetzen, die Himalajazedern und das schwindende Tageslicht einen atmosphärischen Hintergrund, vor dem keine vermummte Gestalt auftauchte, obwohl Ryan sie an jenem Abend zweimal gesehen hatte.
Daran, wie die trägen, gewundenen Nebelbänder sich zusammenrollten und miteinander verschlangen, kam ihm etwas seltsam vor. Als er zurückspulte, um sich noch einmal anzusehen, wie die Dämmerung den Tag verdrängte, kam ein Moment, in dem der Nebel zuckte . Direkt im Anschluss an das Zucken wiederholte der Dunst die exakte Bewegung, die er eben erst gemacht hatte.
Er spulte eine weitere Minute zurück, drückte auf die Abspieltaste und sah, dass ein Teil der Aufnahme geklont worden war, um etwas zu ersetzen, das man gelöscht hatte. Während die Dämmerung voranschritt, tauchte ein zweites Stück geklontes Video auf - als der vermummte Eindringling zwischen den Himalajazedern hätte hervorkommen müssen.
In der unteren rechten Ecke des Bildschirms blendete der Timer die Sekunden kontinuierlich ein, und die Reihenfolge stimmte, statt sich während der duplizierten Aufnahme zu wiederholen. Der Hacker, der das bewerkstelligt hatte, musste ein genialer Hexer und teuflisch detailbesessen sein.
Eine Zeit lang spielte Ryan immer wieder die geklonten Passagen - die erste war neunundvierzig Sekunden lang, die zweite einunddreißig - und überlegte gründlich, was diese Entdeckung bedeutete.
Zwischen dem Zeitpunkt, zu dem er den vermummten Eindringling gesehen, und dem Moment, als er sich die Aufzeichnungen der Überwachungskameras das erste Mal angeschaut hatte, war ein Tag verstrichen. In der Zwischenzeit konnte sich jemand an der Aufzeichnung zu schaffen gemacht haben.
Aber letzte Nacht, bevor er sich die Aufnahmen von dieser Abenddämmerung angesehen hatte, war er im Schlafanzug und im Morgenmantel die Treppe hinuntergerannt, um
nachzusehen, wer seine Suite betreten und verlassen haben könnte, um den herzförmigen Anhänger auf sein Kopfkissen zu legen. Das Löschen dieser Person von der Aufzeichnung der Kamera, die auf den Treppenabsatz vor dem Penthouse gerichtet war, und das Ersetzen des belastenden Segments durch geklontes Bildmaterial musste direkt im Anschluss geschehen sein, während der Eindringling noch zugange war.
Das wies darauf hin, dass die Frau mit den Lilien mit mindestens einem Partner zusammenarbeitete. Wenn man davon ausging, dass sie diejenige war, die wiederholt in seine Suite eingedrungen war, hatte sich ihr Komplize währenddessen über einen Computer in das Überwachungssystem eingeklinkt - höchstwahrscheinlich von irgendeinem Ort innerhalb des Hauses aus - und war eifrig damit beschäftigt gewesen, ihr Bild, sowie sie aus dem Blickwinkel verschwand, von der Aufzeichnung zu löschen.
Er konnte nicht länger von einer psychopathischen Einzelgängerin ausgehen. Die Verschwörungstheorie, bislang ein Sieb, war plötzlich wasserdicht.
Noch entscheidender waren die beeindruckenden Fähigkeiten derer, die sich gegen Ryan zusammengeschlossen hatten, denn das gab ihm einen Hinweis darauf, dass sie auf beträchtliche Unterstützung zählen konnten.
Endlich hatte er Beweise in der Hand. Ohne Zeugen, die den Angriff gesehen hatten, könnte er nicht beweisen, dass der Schnitt in seiner Seite nicht versehentlich zustande gekommen war. Aber geklonte Bilder auf der Aufzeichnung einer Überwachungskamera konnten nicht versehentlich zustande kommen.
An den Maßstäben der Polizei gemessen war das nicht gerade viel Beweismaterial. Aber er hatte nicht die Absicht,
sich an die Polizei zu wenden, solange er die Motive der Verschwörer nicht kannte - und vielleicht nicht einmal dann.
Die Frau mit dem Klappmesser behauptete, seinen Tod zu wollen, und er war überzeugt, dass es tatsächlich ihre Absicht war, ihn früher oder später zu töten. Ihr Motiv war ihm jedoch weiterhin ein Rätsel.
Wilson Motts Mitarbeiterin Cathy Sienna hatte fünf Wurzeln von Gewalttätigkeit aufgezählt: Wollust, Neid,
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