Racheherz - Roman
als eine spirituelle Krise bezeichnet hätten, haben sie eine Entschädigung abgelehnt.«
»Das … kommt unerwartet«, sagte Ryan. »Ich bin dankbar.«
»Es sind brave Leute, Ryan. Gute, anständige Menschen. Und deshalb werden Sie mir schwören müssen, dass sie über dieses arme Mädchen weder schreiben noch öffentlich reden noch das Foto oder ihren Namen verwenden werden. Auch wenn diese Menschen ausgesprochen nett sind, würde es mich nicht wundern - und ich würde es ihnen auch nicht verübeln -, wenn sie Sie wegen Verletzung ihrer Privatsphäre verklagen würden.«
»Das Foto, ihr Name - das ist nur für mich persönlich«, beteuerte ihm Ryan.
»Ich maile Ihnen bereits beides, während wir miteinander sprechen.«
»Noch etwas, Doktor … ich danke Ihnen dafür, dass Sie
meine Bitte ernst genommen haben und so schnell aktiv geworden sind.«
Statt in sein Büro hinunterzugehen, benutzte Ryan den Laptop und den Kompaktdrucker in seiner Suite, um die E-Mail des Chirurgen zu öffnen und auszudrucken.
Bis auf eine leicht abweichende Frisur erwies sich die Herzspenderin als Ebenbild der Frau mit dem Klappmesser.
Ihr Name war Lily gewesen.
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In ihrem hochgereckten Kinn, ihrem energischen Mund und ihrem direkten Blick drückte sich mehr als nur Selbstvertrauen aus - vielleicht Trotz.
Als er in dem Alkoven am Schreibtisch saß und das Foto von Lily betrachtete, wusste Ryan, dass sie die Zwillingsschwester der Frau sein musste, die ihn angegriffen hatte.
Ich bin die Stimme der Lilien.
Er legte das Foto von Lily X neben das Bild von Teresa Reach. Die schwarzhaarige eurasische Schönheit und die Schönheit mit dem goldenen Haar, die Erste auf dem Foto lebensprühend, aber mittlerweile tot, die Zweite schon zum Zeitpunkt der Aufnahme tot, beide Opfer von Verkehrsunfällen, beiden war Hirntod attestiert worden, einer hatte Spencer Barghest Sterbehilfe geleistet, der anderen Dr. Hobb, als er ihr Herz entnommen hatte, und jede von beiden hatte eine Zwillingsschwester, die sie überlebte.
Je länger Ryan die beiden Fotos betrachtete, desto unbehaglicher wurde ihm zumute, denn ihm schien es, als läge vor ihm eine entsetzliche Wahrheit, die sich ihm weiterhin entzog und die ihn dann, wenn er am wenigsten damit rechnete, mit der Wucht eines Tsunami treffen würde.
Nicht lange, nachdem er Samantha begegnet war, hatte Ryan eine Menge über eineiige Zwillinge gelesen. Insbesondere war ihm im Gedächtnis haftengeblieben, dass die oder der Überlebende, wenn sie oder er durch eine Tragödie ihren oder seinen eineiigen Zwilling verloren hatte, oft nicht
nur Kummer, sondern auch ungerechtfertigte Schuldgefühle verspürte.
Er fragte sich, ob Lilys Zwillingsschwester den Wagen gefahren hatte, in dem sie das katastrophale Schädeltrauma erlitten hatte. Das würde ihre Schuldgefühle in einem gewissen Maß rechtfertigen und ihren Kummer intensivieren.
Je länger er die Fotos miteinander verglich, desto deutlicher erinnerte er sich daran, wie sicher er sich vor sechzehn Monaten gewesen war, dass Teresas Bild die Lösung der Rätsel enthielt, die ihn damals geplagt hatten. Diese Intuition sandte ihm jetzt wieder einen Schauer über den Rücken, die Ahnung, dass sie nicht nur der Schlüssel für das war, was ihm vor sechzehn Monaten zugestoßen war, sondern auch alles erklären würde, was ihm gegenwärtig zustieß.
Ryan hatte Teresas Foto erschöpfend analysiert und kein Detail gefunden, das man als Hinweis hätte verstehen könnte. Es war nicht anzunehmen, dass eine mühselige Wiederholung dieser Analyse ihm zu einem Heureka-Erlebnis verhelfen würde.
Aber vielleicht enthielt nicht das Foto selbst die Offenbarung. Vielleicht lag die Bedeutung des Fotos darin, wer es aufgenommen hatte oder wo er es gefunden hatte oder wie ihr Sterbehilfe geleistet worden war, mit welchen Mitteln und unter welchen genaueren Umständen - Details, die, falls diese auffindbar sein sollten, eventuell in Barghests schriftlichen Aufzeichnungen der Selbstmorde, die er ermöglicht hatte, enthalten waren.
Um 9.45 Uhr rief Ryan Wilson Mott an, der sich wie immer freute, von ihm zu hören.
»Ich fliege heute Nachmittag nach Las Vegas«, sagte Ryan. »Die Leute, die dort letztes Jahr mit mir zusammengearbeitet
haben - George Zane und Cathy Sienna -, sind sie derzeit verfügbar?«
»Ja, sie stehen zur Verfügung. Aber keiner von beiden hält sich normalerweise in Nevada auf. Sie arbeiten beide von unserem Büro in Los Angeles aus.«
»Sie können
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