Racheherz - Roman
in seiner Seite nachzudenken und sich seine nächste Verletzung auszumalen.
Die Nacht und der Regen waren ihre Verbündeten. In vierundzwanzig Stunden würde sie beide als Kollaborateure haben.
»Noch eines, Doktor. Das Foto und was auch immer sonst noch die Familie mir zu geben bereit ist - ich brauche es so schnell wie möglich. Zwölf Stunden oder weniger wäre ideal.«
Falls Dougal Hobb sein Skalpell an diesen Worten wetzte, beschloss er, nicht damit zu schneiden. Nach einem kurzen Schweigen sagte er lediglich: »Spirituelle Krisen ziehen sich oft über Jahre oder sogar ein ganzes Leben hin. Normalerweise haben solche Dinge keine Eile.«
»Das ist in diesem Fall anders«, sagte Ryan. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe und für Ihre Achtsamkeit, Doktor.«
41
Das Filet Mignon schnitt sich wie Butter.
Beim Essen machte sich Ryan Gedanken über die Geschicklichkeit der Frau im Umgang mit dem Klappmesser. Die Lilien waren eine Finte gewesen und sie hatte ihm exakt die Wunde zugefügt, die sie beabsichtigt hatte.
Wäre der Schnitt tiefer gegangen, hätte er ärztliche Hilfe gebraucht. So aber hatte sie ihm die Möglichkeit gegeben, die Wunde selbst zu verarzten - und offenbar damit gerechnet, dass er es tun würde.
Es konnte gut sein, dass sie sich, wenn es so weit war, als Mörderin erweisen würde, aber vorläufig ließ sie ihn nur am Tod schnuppern. Sie wollte, dass dieses Spiel sich lange hinzog, denn sie wollte ihm ein Maximum an psychischen Qualen zufügen, bevor sie ihn ausweidete - falls ausweiden das Einzige war, was sie im Sinne hatte.
Das Selbstvertrauen und das Fingerspitzengefühl, mit dem sie das Messer handhabte, hätte sie auf der Straße erwerben können, doch Ryan hatte den Verdacht, sie sei alles andere als ein gewöhnliches weibliches Bandenmitglied. Die Bluttat auf dem Parkplatz war kein Gemetzel gewesen, sondern eher ein Klappmesserballett.
Die Begegnung mochte zwar alarmierend gewesen sein, doch er war froh darüber.
Noch am Abend zuvor hatte er die Möglichkeit in Betracht ziehen müssen, dass die jüngsten Vorfälle - die vermummte Beobachterin im Regen, für deren Existenz es keinen
Beweis in Form von Aufzeichnungen der Überwachungskameras gab, die winzigen Zuckerherzen sowie der herzförmige goldene Anhänger mit der Gravur, die sich nicht mehr in seinem Besitz befanden - Sinnestäuschungen gewesen waren, ebenso, wie die seltsamen Ereignisse vor mehr als einem Jahr Sinnestäuschungen gewesen waren, und mit seiner derzeitigen Batterie von achtundzwanzig Medikamenten zu tun hatten.
Er hatte diese Möglichkeit verworfen, was natürlich seine subjektive und vielleicht unzuverlässige Meinung war. Die Wunde in seiner linken Seite zählte jedoch als ausreichender objektiver Beweis, und damit war diese Frage endgültig geklärt.
Nach dem Abendessen rollte er den Servierwagen mit dem schmutzigen Geschirr auf den Treppenabsatz zurück und gab Mrs Amory Bescheid, dass sie ihn abholen konnte.
Eine Stunde lang nippte er bedächtig an einem zweiten Glas Opus One, blätterte in Samanthas Roman und las einzelne Absätze, wie andere Menschen in einer Krise vielleicht die Bibel aufschlugen und in der Hoffnung auf göttliche Führung Verse lasen.
Um neun Uhr begab er sich zu dem Crestron-Touchpanel, das im Vorraum seiner Suite in die Wand eingelassen war, und griff auf die Überwachungskameras zu. Er nahm sich der Reihe nach sämtliche Flure des Hauses vor, und als er jeden einzelnen dunkel vorfand, ging er davon aus, dass sich die Amorys für die Nacht in ihre privaten Räumlichkeiten zurückgezogen hatten.
Im Erdgeschoss des Hauses, in dem rückwärtigen Flur, der zur Waschküche führte, schloss er den Lagerraum auf, den er am Abend zuvor bereits aufgesucht hatte, und machte die Tür leise hinter sich zu. Er schloss den hohen Metallschrank auf, der die Rekorder enthielt, die mit den Überwachungskameras verbunden waren, und schaltete den Monitor ein.
Als er sich gestern zum ersten Mal die Aufzeichnungen angesehen hatte, auf denen die vermummte Gestalt im Regen festgehalten sein sollte, hatte ihm das Ausbleiben des Phantoms Kopfzerbrechen bereitet. Zu der Zeit war er natürlich noch nicht von einer Klappmesserdiva angegriffen worden und hatte noch Grund gehabt, sich zu fragen, ob er seine überspannten Erlebnisse vielleicht irgendwelchen Nebenwirkungen zu verdanken hatte.
In dieser Geistesverfassung war er als Betrachter der Aufzeichnungen nicht analytisch genug vorgegangen. Er hatte
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