Racheherz - Roman
Tageslicht noch konventioneller, als es bei Dunkelheit den Anschein gehabt hatte:
schlichte einstöckige Häuser mit Schaukelstühlen und Hollywoodschaukeln auf den Veranden, gepflegte Vorgärten, Basketballkörbe über Garagentoren und da und dort eine amerikanische Flagge.
Das Haus von Dr. Death sah so gewöhnlich aus wie jedes andere in der Straße - was Ryan dazu brachte, sich zu fragen, worauf man in einigen der anderen Häuser wohl stoßen könnte.
Als Zane mit dem Mercedes in die Einfahrt bog, hob sich das Garagentor. Sie fuhren hinein und an der Verbindungstür zum Haus stand Cathy Sienna, die Zane zuvor hier abgesetzt hatte.
Während das Garagentor sich wieder schloss, begrüßte sie Ryan mit einem professionellen Lächeln und Handschlag. Er hatte vergessen, wie direkt ihr Blick war: granitgraue Augen, die so unbeirrt starrten, als fordere diese Frau die Welt heraus, ihr etwas zu zeigen, das sie zurückschrecken ließe.
Sie sagte: »Mir war gar nicht klar, dass es Ihnen hier letztes Mal so gut gefallen hat.«
»So viel Spaß wie in Disneyland hatte ich nicht, aber es war denkwürdig.«
»Dieser Barghest«, sagte George Zane, »bringt selbst Verrückte in Verruf.«
In der Küche erklärte Ryan, was er von ihnen wollte: Sie sollten nach Orten suchen, an denen Dr. Death seine Unterlagen über Beihilfe zum Selbstmord mühevoll und sorgfältig versteckt haben könnte. Falltüren unter Teppichen, doppelte Rückwände in Schränken, derlei Dinge eben.
In der Zwischenzeit würde er sich die Ringbücher mit den Fotografien toter Gesichter noch einmal ansehen.
Nach dem Teil des Hauses zu urteilen, durch den Ryan auf dem Weg zum Arbeitszimmer kam, hatte der Connaisseur seine makabere Sammlung nicht erweitert. Erleichtert stellte er fest, dass im Arbeitszimmer immer noch keine Kadaverkunst ausgestellt war.
Offenbar brauchte sogar Barghest eine Zuflucht, wo keine toten Augen starr auf ihn gerichtet waren.
Ein drittes Ringbuch stand im Bücherregal neben den beiden, die schon vor sechzehn Monaten dort gestanden hatten. Ryan nahm es zuerst zur Hand und blieb stehen, während er die Seiten hastig umblätterte und fast damit rechnete, auf ein ihm bekanntes Gesicht zu stoßen.
Unter den elf Fotografien jüngeren Datums in dem neuen Album zeigte die älteste einen Mann in seinen Siebzigern. Die jüngste zeigte einen blonden Jungen mit zarten Gesichtszügen, die blauen Augen durch Klebestreifen offen gehalten, nicht älter als sieben oder acht Jahre.
Eine Fensterscheibe klapperte leise und der auffrischende Wind fegte durch die Dachtraufen. Auf dem Dachboden flatterte etwas, vielleicht ein nistender Vogel.
Innerhalb von sechzehn Monaten hatte er elfmal Sterbehilfe geleistet. Dieser Fährmann stakte mit einer gewissen Regelmäßigkeit über den Styx.
Ryan stellte das Album ins Regal zurück, zog die beiden alten Ringbücher heraus und trug sie zum Schreibtisch.
Da er beim Betreten des Raumes direkt auf die Regale zugegangen war, hatte er das vertraute Buch auf dem Schreibtisch noch nicht bemerkt. Ein Exemplar von Samanthas Roman lag mit dem Buchrücken nach oben aufgeschlagen da.
Ryan starrte das Foto von Sam auf dem Umschlag an,
während er sich auf dem Schreibtischstuhl niederließ. Er zögerte, das Buch zu inspizieren.
Als er es schließlich doch in die Hand nahm, schlug er erst den Schmutztitel und dann den Haupttitel auf. Zu seiner Erleichterung fand er keine Widmung der Autorin, keine Unterschrift.
Beim Durchblättern entdeckte er Anmerkungen am Rand, kleinliche Kritik, zum Teil so ordinär, dass er sich davor ekelte. Er las nur die ersten Randbemerkungen, bevor er das Buch angewidert schloss.
Es war verständlich, dass Spencer Barghest genügend Interesse an dem Roman hatte, um sich ein Exemplar zu kaufen. Er hatte schon seit mindestens sechs Jahren eine feste Beziehung mit Sams Mutter. Und er hatte auf irgendeine Weise mitgeholfen, Sams Zwillingsschwester Teresa aus dieser Welt zu schaffen, was entweder ein edler Akt des Mitgefühls oder ein kaltblütiger Mord gewesen war, je nachdem, welchen Standpunkt man bezog.
Der Standpunkt, auf den es vor allem ankam, war Teresas, aber in Ermangelung eines zuverlässigen Mediums - und die waren heutzutage rar - war es unwahrscheinlich, dass die Behörden eine eidesstattliche Aussage von ihr erhalten würden.
Ryan legte das Buch zur Seite und wandte sich als Nächstes dem ersten Ringbuch zu. Vor sechzehn Monaten hatte ihm keines der Gesichter in diesem Album
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