Rachekind: Thriller (German Edition)
hat er gesagt?«
Georges Nasenflügel bebten. »Er hat von eisigen Zimmern und grausigem Essen erzählt. Von Prügeln und Demütigungen. Von … Missbrauch.« Seine Stimme brach.
Hanna saß still. In dem Artikel wurde das Heim für seine Disziplin und seinen pädagogischen Erziehungsansatz gewürdigt, mit dem schwererziehbare oder verhaltensauffällige Kinder aus Problemfamilien auf das Leben in der Gesellschaft vorbereitet wurden. Von Demütigung, Missbrauch und Prügel war nicht die Rede gewesen. Welch ein Hohn, ausgerechnet dort ein Kinderparadies zu errichten.
George räusperte sich. Seine Arme hingen kraftlos an den Seiten herunter, aber seine Fäuste waren geballt. »Ich konnte dem Heimleiter nichts nachweisen«, presste er hervor. »Obwohl Luke sich bereit erklärt hatte, vor Gericht auszusagen.«
»Haben sie ihm nicht geglaubt?«
»Der Anwalt des Heimleiters konnte die Anklage abschmettern. Er hat es als Verleumdung dargestellt. Luke hatte inzwischen ein beachtliches Strafregister. Einbruch, Betrug, Körperverletzung …«
»Das muss hart für euch gewesen sein.«
George rührte sich nicht. »Für Luke war es schlimmer. Ich habe fast ein Jahr gebraucht, um ihn dazu zu bringen, eine Aussage zu machen. Dann wurde er diskreditiert. Er ist völlig durchgedreht. Aber wir haben trotzdem nicht aufgegeben, bis das Heim geschlossen wurde.«
Hanna zog die Augenbrauen in die Höhe. »Wurde es nicht aufgrund von Sicherheitsmängeln geschlossen?«
»Doch. Ich habe sie zur Anzeige gebracht.«
Auf der Facebook-Seite öffnete sich das Chatfenster, und eine Nachricht ploppte hoch.
Marten: Hanna?
Hanna hielt die Luft an. Marten. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie hatte ihm vertraut. Es hatte sich gut angefühlt, ihn als Freund zu haben.
Marten: Ich war vorhin bei euch. Britt ist in deiner Wohnung. Sie will mir nicht sagen, wo du bist. Sie hat nur gesagt, du willst nichts mehr mit mir zu tun haben. Was ist los?
Was für ein plumper Versuch, um herauszufinden, wo sie war. Hielt er sie für so dumm?
Marten: Hanna? Ich sehe, dass du online bist. Bitte antworte. Ich habe kein gutes Gefühl bei Britt. Du solltest vorsichtig sein, wie weit du ihr vertraust. Ich glaube, sie hat vorhin deine Wohnung durchsucht. Ich habe sie deutlich gehört, und sie hat nur aufgemacht, weil ich sonst nicht aufgehört hätte, gegen die Tür zu hämmern und nach dir zu rufen.
Ihre Wohnung durchsucht? Hanna lachte bitter auf.
Marten: Vorsicht mit Britt. Sie spielt falsch. Mit etwas Glück kann ich das morgen sogar beweisen. Können wir uns treffen?
Beweisen! Als ob sie nicht genug Beweise hätte. Wie geschickt er versuchte, sie aus der Reserve zu locken. Und doch meldete sich eine leise Stimme in ihr. Irgendetwas passte da nicht.
Marten: Hanna? Bitte melde dich! Ich mache mir wirklich Sorgen. Simon weiß auch nicht, wo du bist. Wenn ich bis morgen kein Lebenszeichen von dir bekomme, melde ich dich als vermisst.
Hanna schloss die Seite und fuhr den Computer herunter. Sollte er doch. Sie konnte sich aufhalten, wo sie wollte.
Mit einer fahrigen Bewegung zog sie einen Stapel frisch bedrucktes Papier aus dem Drucker und klopfte ihn mit der Seitenkante auf den Tisch, bis die Blätter ordentlich aufeinanderlagen.
Sie überflog den Text des Flugblatts. Morgen würde sie es verteilen und die letzte Chance nutzen, dass George sie begleiten konnte, bevor Mary und er zu ihrer jährlichen Reise nach Spanien aufbrachen. In der Finca eines Freundes verbrachten sie die Herbstmonate, wenn die Tage kürzer und kühler wurden und Mary noch mehr als sonst mit ihrem Rheuma zu kämpfen hatte. Dann schlich sie auf Zehenspitzen in ihr Zimmer und beugte sich über Lilous Bett. Den Wal an sich gedrückt lächelte sie im Schlaf, und Hanna streckte die Hand aus, um ihr über die Haare zu streichen. Sie schreckte zurück.
Lilous Lächeln war erloschen, ihre weit geöffneten Augen starrten sie an. Hanna stand stocksteif vor dem Bett, ihr Gehirn befahl ihr, Lilou über die Stirn zu streicheln, doch ihre Hände folgten ihr nicht. Als hätte der Blick ihrer Tochter sie zu Eis gefrieren lassen, stand sie reglos vor ihr.
»Grace Manor Home«, flüsterte Lilou, so klar und deutlich, als hätte sie in den letzten Stunden gelernt zu sprechen. Dann schloss sie die Augen und schlief weiter.
Dienstag, 27. September
53
George öffnete Hanna die Beifahrertür. Mit einem erleichterten »Geschafft!« ließ sie sich in die weichen Polster des Fords fallen und verstaute ihre
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