Rachekind: Thriller (German Edition)
niemanden, der sich für sie einsetzt. Sie sind einfach vergessen worden. Abgeschoben und vergessen. Wie Unrat, den man möglichst weit weg von seinem sorglosen Leben verscharrt, damit einen der Gestank nicht stört.«
Hanna wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Ob die Frau von sich selbst sprach? Sie schätzte sie auf Mitte dreißig.
»Waren Sie …« Hanna räusperte sich. »Sind Sie auch so ein Unratkind?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, aber mein Mann.« Sie nahm ihren Stift in die Hand und schrieb in großen Buchstaben »Die Unratkinder Nr. 48« darüber. »Er ist hier aufgewachsen. Nur damals war das noch nicht so schön und gepflegt. Da gab es weder Vergnügungspark noch Dinosteig, keine Rosen und keine Buchsbäume. Als Luke hier war, gab es stattdessen zugige Zimmer, kahle Wände, kaltes Wasser und massenhaft Schläge.«
Luke! Der Satz aus dem Tagebuch flirrte vor Hannas Augen. Es ist, wie Luke beschrieben hat. Eines Tages triffst du sie, und du weißt, die ist es. Ob sie die Frau war, von der Luke gesprochen hatte?
»Wie lange war Luke hier?«
»Er ist mit sechs hergebracht worden und mit siebzehn abgehauen.« Sie wandte Hanna den Kopf zu. »Elf lange Jahre. Er ist missbraucht und geschlagen worden. Es gab niemanden, der sich für ihn eingesetzt hätte. Wenn jemand seinen Hund schlägt, wird sofort der Tierschutz alarmiert, und der Schläger bekommt eine Anzeige. Aber diese Kinder hier, die hatten niemanden. Da haben alle weggesehen. Und ich sage Ihnen auch, warum.«
Die Frau machte eine Pause. Ihre Wangen hatten sich gerötet, und ihre Hände gestikulierten wild.
»Wer hier gelandet ist, war Abschaum der Gesellschaft, Unrat eben. Das waren die Kinder, deren Eltern Loser waren. Säufer, Drogenabhängige, Eltern, die ihre Kinder vernachlässigt und misshandelt haben.« Die Wangen der Frau glühten. »Können Sie sich die Seelen dieser Kinder vorstellen? Zuerst werden sie zu Hause so schlecht behandelt, dass der Staat eingreifen muss, und dann werden sie in einem Heim untergebracht, in dem sich der gleiche Horror wiederholt. Nur unter dem Deckmantel der Nächstenliebe. Wissen Sie, wie diese Nächstenliebe aussah? Können Sie sich das vorstellen?«
Hanna schüttelte den Kopf. Bilder schwirrten vor ihrem inneren Auge. Bilder von Tom als Kind, verstört und verängstigt, frierend und hungrig. Große braune Augen, die um Liebe bettelten und Schläge ernteten.
»Wenn ein Kind hier ankam, hat es einen Willkommensbrei bekommen. Luke sagt, er war ungenießbar. Der Heimleiter hat ihn gewürzt.« Die Frau lachte hart auf. »Auf seine Art. Versalzen und verzuckert, als Beigabe gab es mal Maden, mal Fingernägel oder Rotze. Er hat das nicht einfach so gemacht. Luke sagt, er hat daran gesehen, wie leicht einer zu brechen ist, und danach hat er die Kinder ausgesucht, die er verhökert hat.«
»Verhökert?« Hanna zog ihre Augenbrauen hoch.
»Er hat sie an gut zahlende Herren ›ausgeliehen‹. Damit hat er sich sein Gehalt aufgebessert. Ist das nicht toll? Die Kinder werden aus den Fängen ihrer unfähigen Eltern gerettet und den Klauen eines Monsters anvertraut. Und weil bei seinen Kunden auch Herrschaften der oberen Gesellschaft vertreten sind, kommt er damit durch. Praktisch keine Kontrollen, und wenn mal jemand was gesagt hat, wurde er mundtot gemacht. Wer glaubt schon so einem Unratkind?«
Ein Schweigen entstand, so spannungsgeladen, dass es kaum zu ertragen war.
»Ich bin Lousia.« Die Frau streckte Hanna ihre Hand hin.
»Hanna.« Hanna schüttelte sie und wunderte sich über die Kraft, die in der zierlichen Hand steckte.
»Bist du hier Gast?«, fragte Louisa.
»Jein.« Hanna öffnete ihre Tasche und zog das Foto hervor. »Ich suche meinen Mann. Er war neunzehnhunderteinundneunzig in diesem Heim. In seinem Tagebuch hat er einen Luke erwähnt.«
»Luke ist einundneunzig abgehauen. Wir haben uns kurz davor kennengelernt und uns unsterblich ineinander verliebt.« Louisa streichelte liebevoll über eines der Kinder auf ihrer Zeichnung. »Er ist aus dem Heim getürmt, und wir sind zusammen durchgebrannt. Es war unglaublich romantisch. Jedenfalls am Anfang.«
»Was ist passiert?«
»Seine alten Dämonen haben ihn immer wieder eingeholt. Er hatte so viel Wut im Bauch. Auf alles. Er musste immer beweisen, wie stark und unangreifbar er war. Und er hat sich genommen, was er wollte, ob es ihm zustand oder nicht. Die Gesellschaft sei ihm etwas schuldig, hat er immer gesagt, um sein Verhalten zu
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