Rachekind: Thriller (German Edition)
es sehr genau. Dann deutete sie auf Steve. »Das ist der Baker-Junge. Ja. Ganz sicher. Tom Baker. Ein ganz wilder. Kam immer mit seinen Fußballverletzungen zu mir. Der andere könnte Steve Warrington sein. Tragischer Fall. Das Foto muss gute zwanzig Jahre alt sein.«
Ein Mann in einem Rollstuhl näherte sich. Hanna schätzte ihn auf Mitte sechzig, das graue Haar noch voll, die Gesichtszüge hart.
»Sprechen Sie ihn bloß nicht auf Steve Warrington an«, flüsterte die Frau und steckte Hanna nervös das Foto zu.
Hanna ließ es in ihrer Tasche verschwinden.
»Gibt es ein Problem?«, fragte der Mann mit dem knappen Befehlston eines Offiziers.
»Alles in Ordnung«, sagte die Frau hastig. »Die Dame möchte nur ein Zimmer buchen.«
Der Mann ließ seinen Blick kurz zwischen Hanna und der älteren Frau schweifen. »Wenn Sie ein Zimmer buchen wollen, hilft Ihnen die Rezeption gerne weiter. Kommen Sie mit!«
Abrupt wendete er den Rollstuhl, und Hanna folgte ihm. An der Rezeption verwies er sie an die Empfangsdame und fuhr ohne weiteren Gruß davon. Ein junges Mädchen in einem schwarzen Kostüm lächelte sie freundlich an.
»Guten Tag, Madam, wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich hätte gern ein Zimmer. Für zwei Nächte. Mit Babybett.«
»Selbstverständlich.« Die Empfangsdame studierte ihren Bildschirm, dann wandte sie sich Hanna zu.
»Zimmer hundertzwölf, erster Stock. Mit Blick in den Garten.« Sie schob ein Anmeldeformular über den Tresen. »Würden Sie mir das bitte ausfüllen?«
Hanna füllte das Formular aus und gab es der jungen Frau zurück.
»Fun-Park und Dinosteig sind im Zimmerpreis mit inbegriffen. Die Öffnungszeiten sind von zehn bis sechs Uhr. Nur der Spinnenzoo im Keller ist nicht frei zugänglich. Aber Sie können sich bei mir für eine der kostenlosen Führungen anmelden.« Sie legte ein Blatt mit zwei Spalten vor Hanna. Über der einen Spalte stand 11:30 a. m., über der zweiten 5:00 p.m., und in jeder Spalte waren bereits drei oder vier Namen eingetragen. Ganz unten gab es mehrere Abbildungen von beeindruckenden Vogelspinnen mit großen, haarigen Körpern und Beinen. Lateinische Namen betitelten die abgebildeten Tiere. Ein Name stach Hanna ins Auge. Avicularia geroldi. Gulaia eolli. Ihr Traum. Lilous Besessenheit von Spinnen. Sie wusste instinktiv, dass die Antworten zu ihren Fragen hier verborgen waren, und spürte die Bedrohung, die wie eine Warnung in der Luft des alten Gemäuers lag.
58
Der Hotelgarten war beeindruckend. Sobald man das Rosenspalier verließ, gelangte man in einen parkähnlichen Teil voll alter Laubbäume mit ausladenden Kronen und mächtigen Stämmen. Der Garten selbst war von einer Steinmauer umgeben, die zu hoch war, um sie ohne eine Leiter überwinden zu können. Hanna lief die Mauer ab, um den Ort zu finden, an dem das Foto der drei rauchenden Jungen aufgenommen worden war. Tom Baker. Sie sprach den Namen laut aus.
Wenn sie zurück war, würde sie George bitten, vor seiner Abreise einen letzten Anruf für sie zu tätigen und ihr einen Kontakt bei der Polizei zu vermitteln. Wenn Tom den Namen gewechselt hatte, weil er sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, dann würde das registriert sein. Sie kam zu einem Teich, der in der Nähe der Mauer angelegt worden war.
Seerosen bedeckten die Wasseroberfläche. Am Rand wuchsen unterschiedliche Sorten von Seegras und Schilf, und auf der leicht hügeligen Böschung hinter dem Teich drängten sich verschiedene Ziersträucher, deren Namen Hanna nicht kannte. Einige Meter von dem Teich entfernt befand sich ein Pavillon mit einem Tisch und sechs Stühlen. Hanna ging darauf zu. Auf einem der Stühle saß eine Frau und zeichnete. Hanna betrat den Pavillon, setzte sich an den Tisch und nickte der Frau mit dem Zeichenblock zu. Diese legte den Block so ab, dass Hanna die Zeichnung betrachten konnte.
Es war ein wahres Meisterwerk, Teich und Sträucher waren in ihren Details so exakt abgebildet, als hätte sie ein Foto geschossen. Vor dem Teich spielten Kinder mit einem Ball. Und doch hatte das Bild etwas zutiefst Verstörendes. Hanna betrachtete es genauer. Die Gesichter der Kinder waren verhärmt. Trauer und Mutlosigkeit spiegelten sich in ihnen, die Augen waren ohne Glanz, Köpfe, Schultern und Mundwinkel hingen nach unten.
»Ich nenne sie die Unratkinder«, sagte die Frau plötzlich.
»Unratkinder?«
»Kinder, die keine Stimme haben.« Die Frau fuhr mit ihrem Finger über das Gesicht eines der Kinder. »Ich meine damit,
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