Rachekind: Thriller (German Edition)
aufzureißen. Sie zerrte den Brief aus dem Kuvert.
Meine liebste Hanna,
Dein Gesicht möchte ich jetzt sehen! Du hast Dir heute früh sicher gedacht, der Idiot hat unseren Jahrestag vergessen, aber wie könnte ich das? Am 16. Mai vor zwei Jahren haben wir uns das erste Mal geküsst.
Seitdem hat sich viel verändert, und ich bin Dir und unserer Prinzessin sehr dankbar dafür.
Ich liebe Dich.
Steve
PS : Nimm Dir für heute Abend nichts vor … J
Hanna ließ den Brief sinken. Sie nahm den Umschlag und las das Datum des Stempels. Vierzehnter Mai. Der Tag, nachdem er verschwunden war. Er musste ihn am Freitag auf dem Nachhauseweg eingeworfen haben. Typisch Steve. Wie romantisch wäre es gewesen, ihn an ihrem Jahrestag zu öffnen. Und doch verstand sie nichts. Das war kein Abschiedsbrief. Er passte nicht zu Steves Verschwinden. Er passte nicht zu einem Mann, der seine Frau verließ. Die inzwischen altbekannte Angst packte sie aufs Neue.
Angst, dass Steve etwas Furchtbares zugestoßen war. Dass sie ihn nie wiedersehen würde.
Mit einem Laut der Verzweiflung sprang Hanna auf und rannte auf den Balkon. Sie stellte sich vor die offene Tür, atmete tief durch die Nase ein und fixierte die Kapuze eines Mannes, der im Hauseingang gegenüber mit angewinkeltem Bein an der Mauer lehnte. Er wippte gemächlich vor und zurück, als warte er auf jemanden, der so bald nicht kommen würde. Sie trat an die Balustrade und hielt sich an dem schmiedeeisernen Gitter fest. Der Mann wippte noch immer rhythmisch vor und zurück, als er sie plötzlich bemerkte und abrupt innehielt. Ohne sein Gesicht unter der Kapuze erkennen zu können, spürte sie, dass er sie anstarrte. Hanna trat instinktiv in den Schutz der Wohnung zurück. Ihr Herz klopfte hart, ohne dass sie sich erklären konnte, warum. Sie schloss die Balkontür und verriegelte sie, dann ging sie zu ihrem Schreibtisch zurück. Dort nahm sie den Brief und las ihn, bis sie ihn sich Wort für Wort eingeprägt hatte.
Sonntag, 22. Mai
7
Konzentriert überflog Hanna die Mails, während Lilous stetes Gebrabbel wie eine beruhigende Hintergrundmusik den Raum füllte. Fast alle, die sie gestern noch angeschrieben hatte, hatten ihr geantwortet. Doch niemand konnte ihr einen Hinweis zu Steves Verbleib geben. Enttäuscht stellte sie den Laptop und die elektronische Maus neben sich auf dem Sofa ab. Die Hoffnung, mit der sie eben ihre Nachrichten abgerufen hatte, war mit jeder einzelnen weiter gesunken, bis nur noch ein Gefühl von Mutlosigkeit übrig war.
Ein Scheppern schreckte sie auf. Lilou kniete vor dem CD -Schrank und räumte ihn aus. Kunststoffhüllen fielen geräuschvoll zu Boden, CD s lagen lose auf dem Parkett verteilt und wurden von Lilou mit großem Ernst und unter stetem Geplapper über das nackte Holz geschoben, als müsste sie eine neue Ordnung in die Sammlung bringen. Hanna erhob sich seufzend und ging zu ihr. Mit einem »Da!« hielt Lilou ihr eine CD entgegen. Hanna nahm Lilou auf den Arm und ging mit ihr zur Stereoanlage. Dort legte sie die CD ein und drückte auf Play. Die Stimme von Unheilig erfüllte den Raum. Langsam ging sie zum Sofa und kuschelte sich neben Lilou in die weichen Polster.
Fühlst du auch, wie unsere Zeit verrinnt? Fühlst du?
Sie schloss die Augen und ließ sich von der eindringlichen Stimme forttragen.
Ein riesiger Strauß Rosen.
Eine Holzkiste.
Ein kompliziertes Vorhängeschloss.
Da bist du ja endlich!
Steve küsst mich und drückt mir ein Leatherman in die Hand.
Zeig mir, was du kannst.
Das Schloss ist schwer zu knacken, doch keine echte Herausforderung.
Ich öffne die Schachtel. Schnappe nach Luft.
Steve kniet vor mir und nimmt meine Hand. Er sagt nichts. Sieht mich nur an.
Brauchst du mich, wenn du am Abgrund stehst? Springst du? Ich springe mit … singt Unheilig.
Möchtest du meine Frau werden?
Ich verstehe Steve kaum, so leise spricht er.
Springst du mit?
»Ich springe mit, Steve.«
Das Lied war vorbei, und für Sekunden herrschte Totenstille. Hanna schlug die Augen auf. Fuhr erschrocken zusammen. Fenster auf ihrem Laptop öffneten und schlossen sich wie von Geisterhand, als hätte jemand die Kontrolle über ihren Computer übernommen.
Steve?
Sie hielt den Atem an. Er hatte von zu Hause Zugriff auf den Rechner im Büro. Andersherum funktionierte das sicherlich auch. Eine Internetseite sprang auf, ein schwarzer Fond, an dessen Seite grellrote Blutschlieren herunterliefen. In der Mitte erschien wie aus dem Nichts ein halb
Weitere Kostenlose Bücher