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Racheklingen

Racheklingen

Titel: Racheklingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Abercrombie
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kam er nun an ein breites Flussufer, das befestigt und mit Steinen eingefasst worden war. Dort hielt er kurz inne und fragte sich, wohin er sich nun wenden sollte.
    Die Stadt reichte, so weit er sehen konnte. Flussaufwärts und flussabwärts gab es Brücken, und die Gebäude am anderen Ufer erschienen sogar noch größer als die um ihn herum – Türme, Kuppeln, Dächer zogen sich bis in die Ferne, verhangen und vom Regen in traumschattiges Grau getaucht. Noch mehr Papierfetzen flatterten im Wind, mit Buchstaben darauf, die man mit leuchtender Farbe gedruckt hatte, die bis aufs Pflaster lief. Buchstaben, die teilweise mannshoch waren. Espe sah ein Plakat genauer an und versuchte herauszufinden, worum es darauf ging.
    Wieder blieb jemand mit der Schulter an ihm hängen und verpasste ihm einen Stoß in die Rippen, so dass er aufstöhnte. Dieses Mal fuhr er herum und fauchte, den kleinen Fleischspieß in der Faust, als hielte er eine Klinge. Dann atmete er tief durch. Es war noch nicht so lange her, dass Espe den Blutigen Neuner hatte davonkommen lassen. Jener Morgen war ihm noch in Erinnerung, als sei es erst gestern gewesen, der Schnee vor den Fenstern, das Messer in seiner Hand, das Klappern, als er die Waffe fallen ließ. Er hatte den Mann gehen lassen, der seinen Bruder getötet hatte, er hatte auf die Rache verzichtet, um ein besserer Mensch zu werden. Er hatte sich vom Blutvergießen abgewandt. Wenn er nun einen kurzen Anrempler durchgehen ließ, dann war doch nichts dabei.
    Er zwang sich wieder zu einem angedeuteten Lächeln und ging in die andere Richtung weiter, auf die Brücke. Eine blöde Sache wie so ein Stoß mit der Schulter konnte einem tagelang Ärger machen, und er wollte seinen Neuanfang nicht belasten, bevor er überhaupt angefangen hatte. An beiden Brückenköpfen standen Statuen und starrten über das Wasser, Ungeheuer aus weißem Stein, streifig vor Vogeldreck. Menschen strömten vorüber, als ob ein Fluss über den anderen floss. Menschen jeder Art und Hautfarbe. So viele, dass er sich in ihrer Mitte wie ein Nichts fühlte. An so einem Ort musste man sich wohl zwangsläufig den einen oder anderen Knuff einfangen.
    Etwas stieß gegen seinen Arm. Bevor er wusste, was geschah, hatte er einen Mann am Hals gepackt, schob ihn über das Brückengeländer, das zwanzig Schritt über dem gurgelnden Wasser hing, und presste ihm die Kehle zusammen, als wolle er ein Huhn erwürgen. »Mich anrempeln, du Drecksack?«, fauchte er auf Nordisch. »Ich reiß dir deine scheiß Augen raus!«
    Es war ein kleiner Mann, der verdammt verängstigt aussah. Vielleicht einen Kopf kleiner als Espe und gerade mal halb so schwer wie er. Als das erste Aufwallen seiner Wut wieder verebbte, wurde Espe klar, dass der arme Tropf ihn kaum berührt hatte. Es war keine böse Absicht gewesen. Wie konnte es nur geschehen, dass er große Missetaten vergab, aber dann wegen einer solchen Kleinigkeit den Kopf verlor? Schon immer war er sich selbst der größte Feind gewesen.
    »Entschuldigung, Freund«, sagte er auf Styrisch und meinte es wirklich so. Dann ließ er den Mann zu Boden sinken und rückte ihm mit ungeschickter Hand den zerrauften Mantelkragen zurecht. »Tut mir leid. War ein kleiner … wie sagt man … ein kleiner Fehler. Willst du …«
    Espe merkte, dass er dem Mann den Spieß hinhielt, an dem noch ein letzter Fetzen fettiges Fleisch hing. Der Mann starrte ihn an. Espe verzog betreten das Gesicht. Natürlich wollte er das Fleisch nicht. Espe wollte es selbst kaum. »Tut mir leid …« Der Mann wandte sich um und verschwand in der Menge, sah noch einmal verschreckt über die Schulter, als hätte er gerade den Angriff eines Verrückten überlebt. Hatte er vielleicht auch.
    Espe stand auf der Brücke und sah finster auf das viele braune Wasser, das vorüberfloss. Es war das gleiche Wasser wie im Norden, musste man dazu sagen.
    Ein besserer Mann zu werden, schien eine schwerere Aufgabe zu sein, als er gedacht hatte.

DER KNOCHENDIEB
    Als sich ihre Augen öffneten, sah sie Knochen.
    Lange Knochen und kurze Knochen, dicke und dünne, weiße, gelbe, braune. Sie bedeckten die abblätternde Wand vom Boden bis zur Decke. Hunderte. Sie waren nach einem bestimmten Muster angenagelt worden, wie das Mosaik eines Verrückten. Ihre Augen wanderten nach unten, wund und klebrig. Eine Flammenzunge flackerte in einer verrußten Feuerstelle. Von dem Sims darüber grinsten Schädel leer zu ihr hinüber, in hübschen Dreierstapeln

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