Racheklingen
Finger. Dann stopfte er die Kleidung in den Sack und rollte den Soldaten wieder auf den Bauch, so wie er ihn gefunden hatte.
»Gut!« Cosca deutete auf einen ausgebrannten Turm, der sich gefährlich über ein eingestürztes Dach neigte. »Hier entlang vielleicht?«
»Warum denn diesen Weg?«
»Warum nicht?«
Freundlich konnte sich nicht bewegen. Seine Knie zitterten. »Ich will nicht dorthin.«
»Das ist verständlich, aber wir sollten zusammenbleiben.« Der alte Söldner wandte sich um, und Freundlich packte ihn am Arm. Worte strömten plötzlich aus seinem Mund.
»Ich kann nicht mehr zählen! Ich kann … ich kann nicht denken. Bei welcher Zahl sind wir jetzt? Was … was … bin ich verrückt geworden?«
»Du? Nein, mein Freund.« Cosca lächelte, als er Freundlich auf die Schulter klopfte. »Du bist überhaupt nicht verrückt. Das hier!« Mit einer ausladenden Bewegung zog er sich den Hut vom Kopf und wedelte damit herum. »Das hier ist der reine Irrsinn!«
ERBARMEN UND FEIGHEIT
Espe stand am Fenster, dessen eine Hälfte geöffnet und die andere geschlossen war, und der Fensterrahmen umgab ihn wie der Rahmen eines Bildes. Er sah zu, wie Visserine brannte. Sein schwarzer Umriss hatte durch die Feuer an den Stadtmauern einen leicht orangefarbenen Rand, der seitlich an seinem unrasierten Gesicht, seiner kräftigen Schulter, dem langen Arm, dem Muskelstrang an seiner Hüfte und der leichten Kuhle auf seiner nackten Hinterbacke verlief.
Wäre Benna hier gewesen, er hätte sie gewarnt, dass sie in letzter Zeit ziemlich viel aufs Spiel setzte. Na schön, zuerst hätte er gefragt, wer der große Nordmann sei, dann hätte er sie gewarnt. Dass sie sich mitten in eine Belagerung begeben hatte, bei der sie dem Tod so nahe war, dass sie fühlte, wie er sie im Nacken kitzelte. Dass sie vor einem Mann, den sie bezahlte, so sehr aus der Deckung gekommen war, und dass sie sich gegenüber den Bauern im Erdgeschoss so nachgiebig gezeigt hatte. Sie ging Risiken ein, und sie spürte den Kitzel aus Angst und Erregung, ohne den ein Spieler nicht auskommt. Benna hätte das nicht gefallen. Andererseits hatte sie auch zu seinen Lebzeiten nichts auf seine Warnungen gegeben. Wenn man das Glück gegen sich hatte, musste man eben alles aufs Spiel setzen, und Monza hatte bisher stets gewusst, wie viel sie riskieren durfte.
Jedenfalls, bis man Benna umgebracht und sie von dieser Felswand geworfen hatte.
Espes Stimme drang aus der Dunkelheit. »Wie bist du überhaupt an dieses Haus gekommen?«
»Mein Bruder hat es gekauft. Vor langer Zeit.« Sie erinnerte sich daran, wie er am Fenster gestanden und in die Sonne geblinzelt hatte, wie er sich dann umgewandt und sie angelächelt hatte. Ganz kurz zupfte ein Lächeln an ihren eigenen Mundwinkeln.
Espe wandte sich jetzt nicht um, und er lächelte auch nicht. »Ihr wart euch sehr nahe, oder? Du und dein Bruder.«
»Wir waren uns sehr nahe.«
»Ich und mein Bruder auch. Jeder, der ihn kannte, fühlte sich ihm nahe. Er wusste, wie man das macht. Dann wurde er umgebracht, von einem Mann, den man den Blutigen Neuner nannte. Er wurde umgebracht, obwohl man ihm versprochen hatte, Gnade walten zu lassen, und dann wurde sein Kopf an eine Standarte genagelt.«
Monza wollte davon nichts hören. Zum einen, weil sie die Geschichte langweilig fand, zum anderen, weil sie an Bennas schlaffes Gesicht denken musste, als er über die Brüstung gehoben wurde. »Wer hätte gedacht, dass wir so viel gemeinsam haben? Hast du dich gerächt?«
»Ich träumte davon. Jahrelang war es mein größter Wunsch. Und ich bekam auch mehr als einmal die Gelegenheit dazu, Rache am Blutigen Neuner zu üben. Dafür hätten viele Männer getötet.«
»Und?«
Sie sah, wie die Muskeln auf Espes Wangen sich bewegten. »Das erste Mal habe ich sein Leben gerettet. Das zweite Mal ließ ich ihn gehen und entschied mich dafür, ein besserer Mensch zu werden.«
»Und seitdem läufst du herum wie ein Hausierer mit seinem Karren und versuchst, jedem, den du triffst, die Sache mit dem Erbarmen zu verkaufen? Vielen Dank für das Angebot, aber das ist nichts für mich.«
»Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich diese Idee anderen gegenüber noch vertreten würde. Die ganze Zeit über habe ich mich wie ein guter Mensch verhalten, bin den rechten Weg gegangen und habe gehofft, ich könnte mich selbst davon überzeugen, dass ich das Richtige tat, als ich mich umdrehte und wegging. Den Kreis durchbrach. Aber ich habe es nicht geschafft,
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