Racheklingen
Alten zurückgegangen und hatte gefragt, wie viele Jahre es genau her war, dass die Tore versiegelt wurden und Euz die Dämonen von der Welt verbannt hatte. Der alte Mann hatte die Zahl nicht sagen können. Nun schien es, als habe die Unterwelt die Tore zwischen den Welten erneut durchbrochen und strömte hinein nach Visserine, um Chaos zu verbreiten.
Sie eilten an einem brennenden Turm vorüber, in dessen Fenstern das Feuer flackerte, das wie die Fackel eines Riesen aus dem zerstörten Dach schlug. Freundlich schwitzte, hustete, schwitzte noch mehr. Sein Mund war fürchterlich trocken, seine Kehle endlos rau, seine Fingerspitzen schmierig vor Ruß. Am Ende einer trümmerübersäten Straße sah er die gezackten Umrisse der Stadtmauern.
»Wir sind gleich da! Bleib in meiner Nähe!«
»Ich … ich …« Freundlichs Stimme krächzte so leise in der verräucherten Luft, dass sie sich beinahe verlor. Er hörte ein Geräusch, als sie durch eine enge Gasse schlichen, an deren Ende ein rotes Licht flackerte. Ein Klappern und Scheppern, eine ansteigende Flut wütender Stimmen. Geräusche, wie sie die große Revolte in der Sicherheit begleitet hatten, bevor sechs der meistgefürchteten Sträflinge, darunter auch Freundlich, sich bereiterklärt hatten, den Irrsinn zu beenden. Wer würde das hier tun wollen? Ein Donnern erklang, das die Erde erzittern ließ, und ein rötliches Glühen erhellte den nächtlichen Himmel.
Cosca huschte zum Stamm eines verbrannten Baumes, duckte sich tief und ging dahinter in Deckung. Als Freundlich ihm folgte, wurde der Lärm noch lauter, furchtbar laut, aber sein Herzschlag, der heftig in seinen Ohren pochte, übertönte ihn beinahe.
Die Bresche war keine hundert Schritt mehr entfernt, ein zerklüfteter schwarzer Fleck aus Nacht, der in die Stadtmauer gerissen worden war und nun vor talinesischen Soldaten wimmelte. Sie krochen wie Ameisen über den Albtraum aus eingestürzten Mauerteilen und geborstenen Balken, die eine unebene Rampe in einen ausgebrannten Randbezirk der Stadt bildeten. Vielleicht hatte es einmal eine geordnete Schlacht gegeben, als der erste Angriff befohlen worden war, aber inzwischen hatte sich ein formloses, wildes Durcheinander entwickelt: Die Verteidiger der Stadt rückten hinter den Barrikaden, die vor den zerstörten Gebäuden aufgeworfen worden waren, allmählich zur Bresche vor, die Angreifer versuchten sich weiter durchzuschlagen und die Bresche zu überwinden, drängten sinnlos weiter nach und warfen ihre atemlosen Leichname in das Gemetzel.
Äxte und Degenklingen blitzten auf, Piken und Speere schwangen hin und her und kamen einander ins Gehege, und über dem Gedränge hingen schlaff ein oder zwei zerrissene Flaggen. Pfeile und Flachbogenbolzen flogen hin und her, abgefeuert vom Heer der Talineser vor den Mauern, von den Verteidigern hinter den Barrikaden, aus einem zerstörten Turm neben der Bresche. Vor Freundlichs Augen krachte ein großes Mauerstück von den Befestigungsanlagen in die Menge und riss ein gähnendes Loch in das Durcheinander. Hunderte von Menschen kämpften und starben im höllischen Licht brennender Fackeln, brennender Wurfgeschosse und brennender Häuser. Freundlich konnte kaum glauben, dass all dies wirklich geschah. Es sah erfunden aus, unecht, wie erdacht für ein grelles Gemälde.
»Die Bresche von Visserine«, flüsterte er vor sich her, rahmte die Szene mit den Fingern ein und stellte sich vor, wie es sich an der Wand eines reichen Mannes ausnehmen würde.
Wenn zwei Männer es darauf anlegen, einander zu töten, dann folgt ihre Auseinandersetzung einem gewissen Muster. Auch, wenn es mehrere Männer sind. Sogar ein Dutzend. Mit einer solchen Situation hatte Freundlich niemals Probleme gehabt. Alles folgt einer gewissen Gesetzmäßigkeit, und wenn man schneller, stärker, schlauer war, dann konnte man lebend aus der Sache herauskommen. Aber das hier war anders. Dieses sinnlose Gedränge. Wer wusste schon, ob und wann man schlicht durch den Druck der Nachrückenden von einer Pike aufgespießt werden würde? Diese schreckliche Zufälligkeit. Wie konnte man einen Pfeil, einen Bolzen oder einen Stein, der von oben herabfiel, berechnen? Wie konnte man den Tod nahen sehen, und wie konnte man ihm ausweichen? Es war ein einziges Glücksspiel, dessen Einsatz das eigene Leben war. Und wie bei den Glücksspielen in Cardottis Haus der Sinnesfreuden konnten die Spieler auch hier nur verlieren.
»Das sieht nach einem heißen Gemetzel aus!«, schrie
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