Racheklingen
endlosen Strom von Soldaten entgegen und über die endlose Strömung des Wassers hinweg. Er ließ beides hinter sich zurück, hielt auf den kleineren, heruntergekommeneren Teil der Stadt zu, der am Westufer des Flusses lag. Er würde sich die Zeit damit vertreiben, die Schritte zu zählen, die er bis nach Talins brauchen würde. Seit er sich verabschiedet hatte, waren es bereits dreihundertsechs …
»Meister Freundlich!« Er fuhr herum, runzelte die Stirn, und die Hände machten sich bereit, Messer und Beil zu packen. Eine Gestalt lehnte gelassen in einem Eingang abseits der Straße, Arme und Stiefel verschränkt, das Gesicht in den Schatten. »Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dich hier zu treffen?« Die Stimme war schrecklich vertraut. »Nun, du weißt diese Wahrscheinlichkeit besser zu berechnen als ich, aber wir sind uns doch sicher einig, dass es wirklich ein glücklicher Zufall ist.«
»Das sind wir«, sagte Freundlich, der jetzt, da er erkannt hatte, wer da vor ihm stand, breit lächelte.
»Meine Güte, ich fühle mich beinahe, als hätte ich zwei Sechsen gewürfelt …«
DER AUGENMACHER
Eine Glocke erklang, als Espe die Tür öffnete und in den Laden trat, Monza an seiner Seite. Innen war es dunkel, und Licht drang in einem staubigen Balken durch das Fenster bis auf einen Tresen aus Marmor und die schattenumlagerten Regale. An der Rückwand stand unter einer Hängelampe ein großer Sessel mit einem Lederkissen, auf das man den Kopf stützen konnte. Er hätte vielleicht einladend ausgesehen, wären da nicht die Lederriemen gewesen, mit denen man einen Menschen auf diesem Platz festschnallen konnte. Auf einem Tischchen daneben waren zahlreiche Instrumente in ordentlicher Reihe ausgebreitet. Klingen, Nadeln, Klammern, Zangen. Die Instrumente eines Feldschers.
Dieser Raum hätte ihn einst so sehr erzittern lassen, wie es seinem Namen entsprach, aber nun nicht mehr. Man hatte ihm das Auge aus seinem Gesicht gebrannt, und er hatte überlebt, um daraus eine Lehre zu ziehen. Die Welt schien kaum noch Schrecken zu bergen. Es brachte ihn zum Lächeln, wenn er daran dachte, wie furchtsam er früher gewesen war. Wie er vor nichts und allem Angst gehabt hatte. Das Lächeln zupfte an der großen Wunde unter dem Verband und ließ sein Gesicht brennen, deswegen hörte er damit auf.
Die Glocke rief einen Mann herbei, der durch eine Seitentür eintrat und sich nervös die Hände rieb. Klein und dunkelhäutig und mit besorgtem Gesicht. Besorgt, weil sie ihn vielleicht ausrauben wollten, jedenfalls war das nicht unwahrscheinlich, da Orsos Heer nicht mehr weit von der Stadt entfernt war. Jeder in Puranti wirkte besorgt und hatte Angst, das zu verlieren, was er hatte. Außer Espe selbst. Er hatte nicht viel zu verlieren.
»Mein Herr, meine Dame, wie kann ich Ihnen dienen?«
»Sind Sie Scopal?«, fragte Monza. »Der Augenmacher?«
»Der bin ich«, nickte der Mann und vollführte eine nervöse Verbeugung, »Wissenschaftler, Feldscher, Arzt, auf alle Bereiche des Sehens spezialisiert.«
Espe löste den Knoten hinter seinem Kopf. »Das ist gut.« Und er begann, den Verband abzuwickeln. »Ist nämlich so, dass ich ein Auge verloren habe.«
Das versetzte den Arzt in bessere Laune. »Oh, sagen Sie nicht verloren, mein Freund!« Er kam nun näher ans Fenster. »Sagen Sie nicht verloren, solange ich nicht die Gelegenheit hatte, mir den Schaden einmal anzusehen. Sie wären überrascht, was man heute alles machen kann! Die Wissenschaft schreitet jeden Tag mit großen Sprüngen weiter voran!«
»Ein echter Springbock, was?«
Scopal stieß ein unsicheres Glucksen aus. »Nun ja … sie ist eher elastisch. Aber tatsächlich ist es mir gelungen, Männern, die glaubten, für den Rest ihres Lebens blind zu sein, wieder ein gewisses Sehvermögen zurückzugeben. Sie haben mich einen Zauberer genannt! Stellen Sie sich das vor! Sie nannten mich … einen …«
Espe wickelte das letzte Stück Verband ab, und die Luft berührte kalt seine kribbelnde Haut, dann trat er näher und drehte die linke Seite seines Gesichts nach vorn. »Nun? Was meinen Sie? Kann die Wissenschaft einen so großen Sprung tun?«
Der Mann senkte bedauernd den Kopf. »Ich muss mich entschuldigen. Aber selbst, was einen einfachen Ersatz betrifft, habe ich große Entdeckungen gemacht, keine Angst!«
Espe trat einen halben Schritt weiter auf den Mann zu und blickte auf ihn hinab. »Sehe ich so aus, als hätte ich Angst?«
»Nicht im Geringsten natürlich, ich
Weitere Kostenlose Bücher