Racheklingen
hielt ihn dann ans Licht. Der Sonnenschein verwandelte die kleine Pfütze darin in flüssige Diamanten, und sie lächelte. Ein unschuldiges, hübsches, dennoch völlig unauffälliges Lächeln. »Es sieht nach nichts Besonderem aus.«
»Das ist ja auch der ganze Sinn und Zweck. Es hat keine Farbe, keinen Geruch, keinen Geschmack. Und dennoch genügt der winzigste, kleinste Tropfen, eingenommen oder auch nur eingeatmet, die kleinste Berührung mit der Haut, um einen Menschen in wenigen Minuten zu töten. Es gibt kein Gegengift, kein Heilmittel, keine Immunität. Das hier … das ist wahrlich der König der Gifte.«
»Der König der Gifte«, hauchte sie angemessen ehrfürchtig.
»Bewahre dieses Wissen in deinem Herzen, meine Liebe, und denke daran, dass es nur in einer
extremen
Notlage verwendet werden darf. Nur gegen die gefährlichsten, misstrauischsten, gerissensten Ziele darf es eingesetzt werden. Nur gegen jene, die über
intimes
Wissen hinsichtlich der Kunst eines Giftmischers verfügen.«
»Ich verstehe. Vorsicht steht immer an erster Stelle.«
»Sehr gut. Das ist die bedeutendste aller Lehren.« Morveer lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und führte die Fingerkuppen zu einem spitzen Turmdach zusammen. »Jetzt kennst du mein größtes Geheimnis. Deine Lehrzeit ist vorbei, aber … ich hoffe, dass du bleiben wirst, als meine Assistentin.«
»Es ist mir eine Ehre, in Ihren Diensten bleiben zu dürfen. Ich habe noch viel zu lernen.«
»So ist es mit uns allen, meine Liebe.« Morveer hob den Kopf, als die Türglocke in der Entfernung läutete. »So ist es mit uns
allen
.«
Zwei Gestalten näherten sich dem Haus über den langen Weg, der durch den Obstgarten führte, und Morveer zog sein Fernrohr heraus und studierte die Neuankömmlinge. Ein Mann und eine Frau. Er war sehr groß und wirkte sehr kraftvoll und stark, trug einen fadenscheinigen Mantel und langes, wehendes Haar. Ein Nordmann, nach seiner Erscheinung zu urteilen.
»Ein Wilder«, brummte Morveer unterdrückt. Solche Männer neigten zu Gräueltaten und Aberglauben, und er verachtete sie von Herzen.
Nun richtete er sein Fernrohr auf die Frau, die allerdings sehr wie ein Mann gekleidet war. Sie sah geradewegs zum Haus hinüber, ohne den Blick abzuwenden. Direkt zu ihm, wie es schien. Ein hübsches Gesicht, zweifelsohne, eingerahmt von kohlrabenschwarzem Haar. Aber es war eine harte und beunruhigende Art von Schönheit, die zudem von einer grüblerischen, finsteren Entschlossenheit geprägt war. Ein Gesicht, das gleichzeitig eine Herausforderung und eine Bedrohung aussprach. Ein Gesicht, das man, sobald man es einmal erblickt hatte, nicht so schnell wieder vergaß. Sie konnte es hinsichtlich der Schönheit nicht mit Morveers Mutter aufnehmen, aber wer konnte das schon? Seine Mutter war in ihren hervorragenden Eigenschaften beinahe übermenschlich gewesen. Ihr reines Lächeln, vom Sonnenlicht geküsst, war in Morveers Erinnerung ewiglich eingegraben, als sei es ein …
»Besucher?«, fragte Day.
»Die Murcatto ist da.« Er schnippte mit den Fingern und deutete auf den Tisch. »Räum das alles weg. Mit der
größten
Sorgfalt, wohlgemerkt! Dann bring uns Wein und Kuchen.«
»Soll irgendwas darin sein?«
»Nur Pflaumen und Aprikosen. Ich möchte meine Gäste willkommen heißen und sie nicht töten.« Jedenfalls nicht, bevor er erfahren hatte, was sie zu sagen hatten.
Während Day hurtig den Tisch abräumte, eine kleine Decke darüberwarf und die Stühle wieder heranrückte, unternahm Morveer einige elementare Vorsichtsmaßnahmen. Dann setzte er sich auf seinem Stuhl in Pose, die auf Hochglanz polierten kniehohen Stiefel vor sich gekreuzt und die Hände über der Brust verschränkt, wie ein Landadeliger, der die Winterluft auf seinem Gut genoss. Hatte er sich das denn nicht verdient?
Als seine beiden Besucher das Haus erreichten, erhob er sich mit schmeichlerischstem Lächeln. Die Murcatto ging mit der leichten Andeutung eines Hinkens. Sie verbarg es gut, aber in den langen Jahren, die er inzwischen im Geschäft war, hatte Morveer seine Sinne wie ein Rasiermesser geschärft, und ihm entging keine Einzelheit. Sie trug einen Degen an der rechten Hüfte, und es schien ein guter zu sein, aber dem schenkte er weniger Beachtung. Hässliche, unelegante Werkzeuge. Sicher, die Leute von Stand trugen sie, aber nur die Ungehobelten und Heißblütigen ließen sich tatsächlich dazu herab, diese Dinger auch zu gebrauchen. Sie trug einen Handschuh über ihrer
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