Racheklingen
bitten dürfte, Meister Freundlich.« Der Sträfling warf ihm ein Ende des seidenen Bands herüber, während es am anderen weiterhin um seine Taille festgebunden war. »Sie sind sicher, dass Sie mein Gewicht halten können?«
»Ja.« Tatsächlich vermittelte der schweigsame Mann eine so schreckliche Kraft, dass selbst Morveer ein wenig Zutrauen dazu fasste. Mit einem Knoten gesichert, den er selbst geknüpft hatte, senkte er erst einen seiner weichen Schuhe durch das rautenförmige Loch hinab, dann den anderen. Er schob die Hüften hindurch, dann die Schultern, und dann war er in der Bank.
»Lassen Sie mich hinunter.« Und er schwebte nach unten, so sanft und glatt, als ob eine Maschine ihn abseilte. Seine Schuhe berührten die Fliesen, und er löste den Knoten mit einer ruckartigen Bewegung seines Handgelenks, das geladene Blasrohr einsatzbereit in der Hand. Zwar ging er davon aus, dass es nur diesen einzigen Wächter im Gebäude gab, aber man sollte sich niemals von seinen Erwartungen blenden lassen.
Vorsicht stand immer an erster Stelle.
Seine Augen glitten den dunklen Flur hinauf und hinab, und seine Haut kribbelte vor Aufregung über die bevorstehende Arbeit. Es war keine Bewegung wahrzunehmen. Nur eine so vollständige Stille, dass sie beinahe gegen seine angestrengten Ohren zu drücken schien.
Er sah auf, entdeckte Days Gesicht über der Lücke und bedeutete ihr, ebenfalls hinunterzukommen. Sie glitt so geschmeidig herab wie eine Zirkusartistin; die nötige Ausrüstung für ihre Arbeit hatte sie in einem schwarzen Tragetuch um ihren Körper geschlungen. Als ihre Füße den Boden berührten, streifte sie sich das Seil ab und duckte sich grinsend.
Beinahe hätte er ihr Grinsen erwidert, aber er hielt sich zurück. Es wäre nicht angemessen, sie die Bewunderung spüren zu lassen, die er dem Talent, dem Charakter und der schnellen Entscheidungsfähigkeit entgegenbrachte, die sie in ihren drei gemeinsamen Jahren entwickelt hatte. Auch musste sie nicht wissen, wie sehr er sie schätzte. Immer wenn er sich zu so etwas hatte hinreißen lassen, hatten die Menschen sein Vertrauen missbraucht. So war es im Waisenhaus gewesen, während seiner Lehrzeit, seiner Ehe, seines Arbeitslebens. Immer wieder hatte er schmerzvollsten Verrat erfahren. Sein Herz war gezeichnet von vielen Wunden. Er würde ihre Beziehung auf rein beruflicher Ebene halten und sie so beide schützen. Sie vor ihm und sie vor sich selbst.
»Alles klar?«, zischte sie.
»Wie ein leeres Schachbrett«, raunte er zurück und blickte auf den gefällten Wächter, »und es läuft alles nach Plan. Was verabscheuen wir schließlich am meisten?«
»Senf?«
»Und?«
»Zufälle.«
»Genau. So etwas wie glückliche Zufälle gibt es nicht. Nimm ihn bei den Stiefeln.«
Mit großer Anstrengung trugen sie den Wachmann bis zu seinem Schreibtisch und schoben ihn auf seinen Stuhl. Sein Kopf kippte nach hinten, und er fing an zu schnarchen, wobei sein langer Schnurrbart sanft um seine Lippen flatterte.
»Ahhh, er schläft wie ein Mäuschen. Die Requisiten bitte.«
Day reichte Morveer eine leere Branntweinflasche, und er platzierte sie wohldurchdacht auf den Fliesen neben den Stiefeln des Wächters. Dann gab sie ihm eine halbvolle Flasche. Morveer zog den Stopfen ab und kippte einen ordentlichen Schluck über die nietenbeschlagene Lederweste des Mannes. Schließlich legte er sie vorsichtig direkt neben seine herabbaumelnden Finger, sodass der Branntwein auf die Fliesen tropfte und dort eine schillernde Lache bildete.
Morveer trat zurück und rahmte die Szenerie mit den Händen ein. »Das lebende Bild … ist präpariert. Welcher Dienstherr erwartet nicht, dass sein Nachtwächter sich entgegen aller strengen Anweisungen während seines Dienstes den ein oder anderen Schluck genehmigt? Man betrachte nur die schlaffen Züge, den Geruch nach starkem Schnaps, das laute Schnarchen. Wenn er am Morgen so aufgefunden wird, reicht das für die sofortige Entlassung. Er wird natürlich seine Unschuld beteuern, aber da es keine anderen Hinweise gibt …« Er fingerte im Haar des Wachmanns und zog die Nadel aus der Kopfhaut, »entsteht auch nicht der geringste Verdacht, der in eine andere Richtung deuten könnte. Alles ist
ganz und gar
wie immer. Obwohl natürlich gar nichts so wie immer ist, nicht wahr? Oh nein. Die stillen Säle der Westporter Filiale … des Bankhauses Valint und Balk … bergen ein
tödliches
Geheimnis.« Er blies die Laterne des Wächters aus, und sofort
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