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Racheklingen

Racheklingen

Titel: Racheklingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Abercrombie
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lag noch vor ihm. Er klemmte eine Hand in die steinernen Verzierungen an der Spitze, löste das Seil mit der anderen und schob es sich über die Schulter. Dann zog er sich empor, Finger und Zehen suchten Halt in den Ornamenten und Figuren, während der Atem zischend aus seiner Nase fuhr und seine Arme brannten. Er schwang ein Bein über die Skulptur eines grimmigen Frauengesichts und saß da, vierzig Schritt über der Straße, hielt sich an ein paar steinernen Blättern fest und hoffte, dass sie mehr aushielten als jene, die wirklich an Bäumen wuchsen.
    Er hatte sich schon in angenehmeren Situationen befunden, aber man musste das Ganze von der Sonnenseite betrachten. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er mal wieder den Kopf einer Frau zwischen den Beinen. Von der anderen Straßenseite hörte er ein Zischen und sah Days schwarzen Schatten auf dem Dach. Sie deutete nach unten. Die nächste Patrouille kam anmarschiert.
    »Scheiße.« Ganz eng drückte er sich an die Verzierungen und versuchte, möglichst selbst wie ein Stein auszusehen. Das Hanfseil hatte seine Hände aufgeraut und ließ sie prickeln, und er hoffte, dass niemand auf den Gedanken kam, ausgerechnet jetzt nach oben zu gucken. Die Männer rasselten unter ihm vorbei, und er stieß die Luft aus, während sein Herzschlag lauter als zuvor in seinen Ohren dröhnte. Er wartete, bis sie die Ecke des Gebäudes umrundet hatten und er wieder genug Atem geschöpft hatte, um das letzte Stück in Angriff zu nehmen.
    Die Dornen weiter unten an den Wänden waren auf Stangen aufgesetzt, die sich wie ein Kugellager drehten. Sie konnte man unmöglich überwinden. Aber oben an den Säulen waren sie in den Stein gemauert. Er zog seine Handschuhe hervor – schwere Schmiedehandschuhe – und streifte sie über, dann griff er nach oben, legte seine Hände fest um zwei der Stacheln und holte tief Luft. Dann ließ er sich mit den Beinen los und hing einen Augenblick in der Luft, zog sich hoch und starrte ein wenig schieläugig auf die Eisenspitzen vor seinem Gesicht. Es war, als ob man sich ins Astwerk hineinarbeitete, wenn man davon absah, dass man dort nicht so leicht ein Auge einbüßen konnte. Es wäre schön, dieses Abenteuer mit beiden Augen zu überstehen.
    Er pendelte in eine Richtung, dann wieder in die andere und konnte einen Stiefel festhaken. Dann schwang er sich herum, fühlte die Dornen gegen sein dickes Lederwams kratzen und gegen seine Brust pieksen, und mit einem Ruck war er darüber hinweggerollt.
    Und dann war er oben.
    »Achtundsiebzig … neunundsiebzig … achtzig …« Freundlichs Lippen bewegten sich von selbst, als er zusah, wie sich Espe über die Brustwehr und aufs Dach des Bankgebäudes schwang.
    »Er hat es geschafft«, flüsterte Day ungläubig mit schriller Stimme.
    »Noch dazu in einer sehr guten Zeit.« Morveer kicherte leise. »Wer hätte gedacht, dass er so gut klettern kann …
Wie ein Affe

    Der Nordmann richtete sich auf, und sein Körper bildete einen dunkleren Umriss vor dem dunklen Nachthimmel. Er zog den großen Flachbogen von seinem Rücken und machte sich daran zu schaffen. »Wollen wir mal hoffen, dass er nicht wie ein Affe schießt«, raunte Day.
    Espe zielte. Freundlich hörte das sanfte Surren der Bogensehne. Kurz darauf fühlte er, wie der Bolzen in seine Brust einschlug. Er packte den Schaft und sah missmutig an sich hinunter. Es hatte kaum wehgetan.
    »Welch ein
glücklicher
Umstand, dass keine Spitze dran ist.« Morveer löste den Draht vom Bolzen. »Wir sollten versuchen, weitere Missgeschicke, wie Ihr vorzeitiger Tod sicherlich eines darstellen würde, zu vermeiden.«
    Freundlich warf den stumpfen Bolzen weg und befestigte das Seil am Draht.
    »Sind Sie sicher, dass dieses dünne Ding sein Gewicht aushält?«, fragte Day leise.
    »Seidenfaser aus Suljuk«, erklärte Morveer selbstzufrieden. »Federleicht, aber stark wie Stahl. Es sollte uns alle drei gleichzeitig aushalten, und niemand, der nach oben schaut, wird etwas bemerken.«
    »Das hoffen Sie.«
    »Was tue ich nie, meine Liebe?«
    »Ja, ja.«
    Das schwarze Seil schoss durch Freundlichs Finger, als Espe auf der anderen Seite den Draht wieder einholte. Er sah, wie es zum anderen Dach hinüberkroch, und zählte, wie viel Schritte es waren. Fünfzehn, dann hatte Espe das andere Ende in der Hand. Sie zogen das Seil zwischen sich straff, dann schlang Freundlich es durch den Eisenring, den sie in die Dachbalken geschlagen hatten, und zurrte es fest, mit einem, zwei, drei

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