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Racheklingen

Racheklingen

Titel: Racheklingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Abercrombie
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nicht Teil des Plans. Leichter Rauch ringelte sich inzwischen von der Brüstung, um die das Seil geschlungen worden war. Offenbar reagierte die Säure viel schneller als vermutet.
    »Verdammt.« Hastig schwang er sich wieder aufs Dach, kniete sich neben den rauchenden Knoten und hielt das Seil mit einer Hand fest. Aus einer seiner Innentaschen zog er sein Skalpell, beugte sich vor und schnitt das flatternde Tuch mit ein paar entschiedenen Schnitten vom Dorn. Eins, zwei drei, und fast war er fertig, geschickt wie ein Feldscher. Der letzte Schnitt, und …
    »Ah!« Erst verärgert, dann mit wachsendem Entsetzen begriff er, dass er seinen Knöchel mit dem Skalpell leicht geritzt hatte. »Verdammt!« Die Schneide war mit Larync-Tinktur benetzt, und da dieser Stoff ihm morgens stets Übelkeit bereitet hatte, hatte er seine Abhärtung dagegen schließlich vernachlässigt. Es würde nicht tödlich sein. Nicht an sich. Aber es konnte durchaus dazu führen, dass er von diesem Seil stürzte, und gegen den freien Fall auf harte, harte Pflastersteine war er leider nicht immun. Das war in der Tat bitterste Ironie. Die meisten, die seinem Beruf nachgingen, wurden von ihren eigenen Giften getötet. So war es wohl.
    Mit den Zähnen zog er sich den einen Handschuh ab und fischte in seinen vielen Taschen nach dem speziellen Gegengift, fluchte erstickt in das Leder und schwankte hin und her, als der kühle Wind auffrischte und eine Gänsehaut über sein nacktes Bein kriechen ließ. Winzige Glasröhrchen schlugen klappernd gegen seine Fingerspitzen, allesamt mit einem hineingeritzten Zeichen markiert, das es ihm erlaubte, sie allein durch Betasten voneinander zu unterscheiden.
    Unter den gegenwärtigen Umständen war es eine ausgesprochen kitzlige Operation. Er rülpste und fühlte Übelkeit in sich aufsteigen, und sein Magen rumorte schmerzhaft. Seine Finger fanden die richtige Kennzeichnung. Er ließ den Handschuh aus dem Mund fallen, holte die Phiole mit zitternder Hand aus dem Mantel, zog den Korken mit den Zähnen heraus und schüttete sich den Inhalt in den Mund.
    Der bittere Extrakt ließ ihn würgen, und er spuckte sauren Speichel auf die weit unter ihm liegenden Pflastersteine. Dann klammerte er sich wieder am Seil fest, kämpfte gegen die Übelkeit, während die schwarze Straße um ihn herum zu schwanken schien. Er war wieder ein Kind, hilflos. Leise wimmerte er und hielt sich mit beiden Händen fest. So verzweifelt, wie er sich am toten Körper seiner Mutter festgeklammert hatte, als sie gekommen waren, um ihn zu holen.
    Ganz allmählich zeigte das Gegengift Wirkung. Die dunkle Welt um ihn herum hörte auf, sich zu drehen, und sein Magen krampfte sich nicht länger zusammen. Unter ihm war die Straße, über ihm der Himmel, genau dort, wo sie jeweils hingehörten. Seine Aufmerksamkeit wandte sich plötzlich wieder den Knoten zu, die noch stärker rauchten als zuvor und ein leises Zischen von sich gaben. Er konnte den leichten Säuregeruch wahrnehmen, als sie allmählich durchbrannten.
    »Verdammt!« Hastig schlang er beide Beine über das Seil und kletterte los, noch immer geschwächt von der selbst verabreichten Dosis Larync. Die Luft biss in seiner Kehle, die ihm durch die aufkeimende Angst wie zugeschnürt war. Wenn das Seil durchbrannte, bevor er die andere Seite erreicht hatte, was geschah dann? Seine Eingeweide zogen sich zusammen, und er musste einen Augenblick innehalten. Mit zusammengebissenen Zähnen schwang er in der leeren Luft.
    Weiter, weiter, aber er war so schrecklich erschöpft. Seine Arme zitterten, seine Hände bebten, die nackte Handfläche und das nackte Bein brannten durch die Reibung. Nun lag schon mehr als die Hälfte hinter ihm, und er kroch weiter. Den Kopf ließ er nach unten hängen, und er holte tief Luft für das nächste Stück. Freundlich streckte ihm bereits einen Arm entgegen, und die große Hand war höchstens noch ein paar Schritt entfernt. Day starrte ihn an, und Morveer fragte sich ein wenig erzürnt, ob er den Hauch eines Lächelns auf ihrem schattenumlagerten Gesicht erkennen konnte.
    Und dann erklang ein leises, reißendes Geräusch von der Seite, von der er gekommen war.
    Morveers Magen machte einen Satz, und er fiel, fiel, schwang nach unten, und die kühle Luft schoss durch seinen weit aufgesperrten Mund. Die Wand des verfallenen Gebäudes kam auf ihn zu. Er stieß ein irres Heulen aus, genau wie damals, als sie ihn von der toten Hand der Mutter losgerissen hatten. Es gab einen

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