Rachekuss
davon.
Frustriert stellte Flora die Einkäufe zu Hause ab und ging dann, ohne lange zu überlegen, bei Carina vorbei.
Sie war bisher noch nicht bei ihrer neuen Freundin zu Hause gewesen, irgendwie hatte es sich noch nicht ergeben. Floras Zimmer lag einfach immer mehr auf dem Weg, außerdem konnten sie sich wunderbar ins Dachgeschoss zurückziehen, ohne dass sie jemand störte. Ihre Mutter arbeitete höchst motiviert in ihrem Souterrain-Atelier an Skulpturen von kleinen, sehr runden, irgendwie fränkisch anmutenden Menschen, ihr Bruder hatte rasch fußballbegeisterte Freunde gefunden, mit denen er die meiste Zeit auf einem Bolzplatz verbrachte, und ihr Vater kam sowieso nie vor neun Uhr abends nach Hause.
Als Flora an dem öden, achtstöckigen Hochhaus bei »Meyer-Grabow« klingelte, dauerte es eine Weile, bis jemand den Türöffner drückte. Flora fuhr mit dem Aufzug in den vierten Stock hinauf. Hinter einer der Türen lugte eine Frau Ende 30 durch einen schmalen Spalt. Sie trug, soweit Flora erkennen konnte, einen gräulichen Bademantel, dünnes blondes Haar hing ihr strähnig ins Gesicht und ihre Haut sah wie von zu viel Alkohol und Nikotin gelblich gegerbt aus.
»Entschuldigung, ich bin Flora«, stellte sie sich artig vor. »Ist Carina zu Hause?« Carinas Mutter Melissa machte die Tür nun weiter auf und deutete mit einer vagen Bewegung ins Dunkle hinter sich.
»Carina«, schrie sie in Bühnenlautstärke und irgendwo wurde Musik leiser gedreht. »Besuch.« Flora ging mit einem schüchternen Lächeln an ihr vorbei und versuchte, die Alkoholfahne zu ignorieren.
Dünn und blass wirkte Carina, die im Gegenlicht stand, als sie ihre Zimmertür geöffnet hatte. Sie fiel Flora um den Hals und zog sie zu sich herein.
War Floras Zimmer ein Albtraum in Rosa, glich Carinas einem in Dunkelviolett und Schwarz. Wenige schwarze Eisenmöbel standen herum, überall lagen Bücher, Klamotten und CDs verstreut, eine einsame Topfpflanze mickerte auf dem Fensterbrett herum.
»Entschuldige«, sagte Carina. »Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, hätte ich aufgeräumt.«
Flora betrachtete ihre Freundin eingehender. »Hast du geweint?«
Carina setzte ein schiefes Grinsen auf und schüttelte den Kopf.
»Du hast so rote Augen«, insistierte Flora.
»Hab die Abspül- und die Aufbewahrungsflüssigkeit meiner Kontaktlinsen verwechselt«, behauptete sie. »Außerdem habe ich tierische Kopfschmerzen.«
»Tut mir leid. Aber… heute Morgen in der Schule…«
»Weißt du, Flora, es ist grad nicht so ein ganz toller Moment. Meine Mutter hat mal wieder Superstress mit Udo gehabt. Jetzt hat er wieder ›ich zieh endgültig aus‹ geschrien und ist abgehauen und sie ist total fertig. Mich nimmt das natürlich auch immer tierisch mit.«
»Oh nein, Carina…« Flora strich ihrer Freundin tröstend über die Schulter. »Wie schrecklich. Meinst du, er kommt wieder? Warum müssen Beziehungen immer so verdammt ätzend ablaufen?«
Carina verzog das Gesicht. »Keine Ahnung. Bisher kam er immer wieder. Aber wer weiß, wann es ihm endgültig reicht. Und heute Abend hat sie Premiere mit einem neuen Stück. Bin mal gespannt, wie das geht.«
Flora spürte, dass es kaum der richtige Moment war, Carina mit ihren Sorgen wegen Yannik zu belasten.
Doch schon legte Carina so etwas wie einen geheimen Schalter um und lächelte Flora nun herzerwärmend an. Sie nahm ihre Hände und hielt sie fest. »Und, wie läuft’s mit Yannik?«, fragte sie und Flora konnte sich nicht zurückhalten. Sie schilderte jedes Detail ihrer Begegnung.
Carina hörte nachdenklich zu. »Ich wollte dir das nicht sagen, Flora«, begann sie dann zögernd. »Aber Yannik hat schon mal einem Mädchen nachgestellt, das nichts von ihm wissen wollte. Ist jetzt so ein Dreivierteljahr her. Ging gleich los, als er in unsere Schule kam. Ich habe damals versucht, ihm zu helfen. Aber er war wie besessen von dieser Natalie. Glücklicherweise ist sie zum Schuljahresende für ein Austauschjahr in die USA gegangen. Sie war ein ähnlicher Typ wie du. Groß, schlank, lange dunkle Haare, wunderschön.«
»Mit dem Unterschied, dass ich nicht wunderschön bin«, sagte Flora und zog ihre kräftige Nase imaginär in die Länge.
Carina zog die Augenbrauen zusammen. »Quatsch, natürlich bist du schön. Du kriegst doch mit, wie die Spacken alle reagieren. Und wie die blöden Weiber über dich tuscheln.«
Flora machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die tuscheln nur, weil ich anders aussehe. Weil ich
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