Rachekuss
Eindruck, sie würde gleich reißen, griff mit beiden Händen zu, um sie zu halten, aber dann sah sie das Blut und schrie und die Tüte knallte auf den Boden und zerplatzte und das Blut spritzte in alle Richtungen und eine glibberige dunkelrote Masse quoll hervor und verteilte sich auf dem Fußboden.
Die ganze Klasse sah sie entsetzt an. Flora war aufgesprungen, überall war Blut, ihre Hände voller Blut, ihre weiße Hose besudelt, sogar im Gesicht hatte sie Spritzer. Die Blicke ihrer Mitschüler kamen ihr hämisch vor, lüstern und durchdringend. Wie unter Schmerzen wand sie sich, wollte ihre triefenden Hände verstecken und hinterließ immer mehr Flecken auf ihrer Kleidung.
»Was ist das denn für eine Sauerei?«, schrie Frau Vogt und stand fassungslos vor den rohen Fleischinnereien, die vor Floras Füßen lagen. »Wer war das?«, schrie sie dann, aber niemand in der Klasse reagierte. Carina war zu Flora gesprungen und hatte sie am Ellenbogen zum Waschbecken in der Ecke geführt.
Wie in Trance hielt Flora ihre blutverschmierten Hände unter das kalte Wasser und sah zu, wie die rote Flüssigkeit in den Abfluss strudelte, starrte lange, auch als das Wasser längst schon klar war.
Die Schüler tuschelten aufgeregt, an Unterricht war nicht zu denken, denn auch Frau Vogt gewann nur langsam die Fassung wieder.
»Christopher, geh und besorge Zeitungspapier, einen Eimer Wasser und einen Wischmopp«, wies sie den dicklichen Aknejungen an, der ihr bester Schüler war. Er tat wie ihm geheißen, offensichtlich ganz froh, den Schauplatz der Blutorgie verlassen zu können. Flora stand noch immer unbeweglich am Waschbecken. Carina kniete neben ihr und versuchte mit einem Handtuch, die Blutspritzer von Floras weißer Hose zu entfernen. Doch die Schlieren verwandelten sich nur in blassrote Wolken, die sich mit dem schwarzen Kettenfett vermischten und nicht aufhören wollten, vom Geschehen Zeugnis abzulegen.
Frau Vogt beugte sich über den matschigen Fleischberg, aus dem unaufhörlich Blut über den hellgrauen Linoleumboden rann.
»Scheinen mir Hühnerinnereien oder so etwas zu sein«, stellte sie mit bemüht naturwissenschaftlicher Sachlichkeit fest. »Leber oder so. Ich weiß nicht, was das soll und wer sich diesen üblen Scherz ausgedacht hat. Flora, es tut mir sehr leid, dass Ihnen so übel mitgespielt wurde. Vielleicht sollten Sie alle mal darüber nachdenken, dass man so mit Mitmenschen nicht umgeht. Sie gehören zum Abiturjahrgang – Sie sollten bald mündige Erwachsene sein, die sich dafür einsetzen, dass sich jeder in diesem Land wohlfühlt. Es ist verabscheuenswert, sich so etwas Dummes einfallen zu lassen.«
Christopher kam mit den gewünschten Utensilien zurück und gemeinsam mit Leonie, einem zurückhaltenden Mädchen mit zu großen Zähnen und allzeit satanistisch-schwarzen Klamotten, von dem Flora überrascht gewesen war, wie sehr es in der Theater-AG aufgeblüht war, putzten sie den Boden, die Bank und den Stuhl.
Flora konnte sich nicht überwinden, sich an ihren Platz zu setzen, kauerte sich in die hinterste Reihe neben Leonie und verfolgte apathisch den Rest der Stunde. Frau Vogt vertagte den Test aufs nächste Mal und sie wiederholten stattdessen den Stoff.
In der großen Pause sprach sich der Vorfall blitzartig herum. Und es dauerte auch nicht allzu lange, bis Flora das erste Mal in ihrer Nähe das Wort »Voodoo« hörte.
»Sind die verrückt?«, fragte sie Carina. »Glauben die echt, ich bin eine Voodoo-Priesterin oder so was? Boah – wie pervers ist das denn?« Carina zog Flora in eine ruhige Ecke neben den Fahrradstellplatz. Sie kauerten sich auf die Holzbrüstung, die ein paar Bäume vom Schulhof abgrenzte. Carina strich Flora aufmunternd über den Rücken. »Vergiss es einfach. Das sind Deppen.«
»Aber wer setzt denn solche Gerüchte in die Welt? Da kommt man doch nicht so einfach drauf!« Flora scharrte mit den Füßen im Herbstlaub.
»Eklig – ich seh aus, als hätte ich meine Tage gekriegt und keinen Tampon dabei.« Sie wischte vergeblich über die schmierigen roten Flecken auf ihrer Hose an der Innenseite der Oberschenkel. Sie stand auf und band sich ihr Schultertuch um die Hüften.
»Schon besser«, bestätigte Carina. »Ich hab keine Ahnung, wer so’n Scheiß macht. Aber – hey, Mann –, ach Scheiße, ich will echt keine Gerüchte in die Welt setzen. Aber kannst du dich erinnern, wie Yannik mit Marie und Xenia in der Cafeteria die Köpfe zusammengesteckt hat – und das war gleich
Weitere Kostenlose Bücher