Rachekuss
oder ihre Tasche entreißen würde. Aber alles blieb still, kaum Verkehr auf der Straße, kein Mensch zu sehen. Flora entspannte sich. Weil sie wie immer fror, lief sie schnell, aber sie spürte, wie gut es ihr tat, um diese Uhrzeit angstfrei herumlaufen zu können.
Doch nachdem sie bereits den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte, um die Tür aufzuschließen, zuckte sie erschrocken zusammen. Irgendetwas aus Richtung des Gartens knackte laut. Flora hielt die Luft an und spähte vorsichtig um die Ecke. Huschte da nicht ein dunkler Schatten davon? Sei nicht albern, schalt sie sich und öffnete endlich die Wohnungstür.
Ihr Schrei war so laut, dass sie beinahe Lucas geweckt hätte.
»Mama!«, rief sie dann empört. »Musst du mir unbedingt hinter der Tür auflauern? Boah, hab ich mich erschreckt!«
»Und ich erst«, giftete ihre Mutter. »Als ich um kurz nach zehn aus dem Atelier kam und festgestellt habe, dass du noch immer nicht zu Hause bist.«
»Ach, Mama…« Flora war jetzt nur noch müde. »Es ist gerade mal elf, ich bin fast 18 und das hier ist Deutschland. Da wird man nicht auf offener Straße einfach so gekidnappt.«
»Gut, dass du das so genau weißt.« Leticia funkelte noch immer wütend. »In Zukunft möchte ich gerne, dass du mir sagst, wo du bist und wann du kommst, 18 hin oder her.«
»Ist ja gut, schon gut«, versuchte Flora, die Diskussion zu beenden, und flüchtete in ihren rosa Himmel.
Die nächsten Tage verliefen ruhig. Carina wirkte etwas verschlossen und mürrisch, aber Flora schob das darauf, dass Udo noch nicht wieder aufgetaucht war und Melissa ihren Frust an Carina ausließ. Flora respektierte Carinas Wunsch nach Ruhe, ging stattdessen zum ersten Mal in den Theaterkurs, der von Pierre Edinger geleitet wurde, und übte viel auf ihrer Klarinette.
Edinger war ein Regisseur, der sich nicht allzu schnell zufriedengab. Er stachelte die Schüler an, ihre selbst geschriebenen Szenen immer und immer wieder anders zu probieren, bis es den Anschein hatte, er könnte eventuell zufrieden sein. Flora war verwundert, wie wenig Anweisungen er ihr gab – vielleicht hielt er sie für einen hoffnungslosen Fall… Carina weigerte sich, am Theaterkurs teilzunehmen – eine gescheiterte Schauspielerin in der Familie musste genügen, meinte sie.
Am Freitagmorgen war Flora ziemlich spät dran, weil Lucas die ganze Familie auf Trab gehalten hatte, da einer seiner Schienbeinschoner verschwunden war, den er heute unbedingt zum Fußballtraining brauchte.
Flora raste zur Schule, so schnell es ging, musste aber immer wieder auf Lucas warten, der herumtrödelte, als habe er alle Zeit der Welt. Sie ärgerte sich, dass sie die weiße Bootcut-Hose angezogen hatte, denn als sie endlich ihr Fahrrad abstellte, bemerkte sie, dass das rechte Hosenbein an der Innenseite von Kettenfett schwarz verschmiert war. Ihre Laune sank in den Keller. Sie schnauzte Lucas an, sich endlich zu beeilen, und brachte ihn nicht wie sonst manchmal zu seinem Klassenzimmer, sondern ließ ihn auf dem Fahrradparkplatz stehen. Er war kein Baby mehr, er würde sein Klassenzimmer schon finden.
Sie witschte in ihres hinein und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass die Mathelehrerin noch nicht da war. Flora hasste Mathe, es war ihr schwächstes Fach und heute stand auch noch ein erster Test an. Ihr war klar, dass sie viel zu wenig dafür gelernt hatte, und sie sah sich panisch nach Carina um, die ziemlich gut in Mathe war. Doch ihr Platz war leer. Mist! Flora überlegte nicht lang und beschloss, ihr Mathebuch für den Fall der Fälle unter der Bank zu deponieren. Noch wusste sie nicht, wie streng Abschreiben geahndet wurde – an ihrer brasilianischen Schule war es eine Todsünde und doch beging sie fast jeder. Sie öffnete die Seite, von der sie hoffte, sie würde ihr am ehesten weiterhelfen, und wollte das Buch unter die Bank legen. In diesem Moment ging die Tür auf und sowohl Carina als auch Frau Vogt betraten das Klassenzimmer. Flora grinste Carina erleichtert an und versuchte, das Buch absturzsicher zu platzieren. Aber irgendetwas lag unter ihrer Bank, etwas Großes, Störendes. Unter den neugierigen Blicken von Marie und Xenia, die in der Reihe direkt hinter ihr saßen, versuchte sie, das Buch unauffällig auf ihren Oberschenkeln zu balancieren und das Ding unter der Bank hervorzuziehen. Es fühlte sich wie eine dünne Plastiktüte an, eine prall gefüllte Plastiktüte. Flora spürte, wie die Tüte nach unten zog, sie hatte den
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