Rachekuss
Garagentor schwang auf und aus den Augenwinkeln erkannte Flora ihren Vater, der seinen funkelnden Firmenwagen in die schmale Garage pferchte.
»Bitte, du musst jetzt gehen«, zischte sie Yannik zu.
»Nicht schon wieder«, stöhnte er, lachte aber dabei.
»Mein Vater«, sagte Flora und wies mit dem Ellenbogen Richtung Garage.
»Aber wir sehen uns wieder – versprochen?«, drängte er. Flora presste einen letzten Kuss auf seine Lippen und nickte: »Ja, morgen in der Schule. Es wird sich nicht vermeiden lassen.«
Er knuffte ihr spaßhaft in die Schulter. »Du weißt, wie ich es meine!«
»Geh jetzt«, sagte Flora. »Geh! Bis morgen.«
Flora hatte es nicht über sich gebracht, Carina von ihrem Rückfall zu erzählen. Es kam ihr wie Verrat vor. Aber sie hätte auch nichts erklären können. Sie wusste selbst nicht genau, was mit ihren Gefühlen los war.
Gestern Morgen hatte sie noch geglaubt, Yannik sei der größte Schuft, der ihr je begegnet sei. Und gestern Abend… da hatte er sie geküsst und sie wünschte sehnlich, er würde es immer und immer wieder tun. Sie wollte nicht entscheiden, ob sie sich tatsächlich zu ihm, zu seiner Person hingezogen fühlte, oder ob es ihr einfach nur guttat, dass ein Junge wie er sich in sie verliebt hatte.
Diese Woche werde ich 18, dachte sie. Werde ich mich ab da richtig erwachsen fühlen? Werde ich wissen, welchen Gefühlen ich trauen kann und welchen nicht? Natürlich war ihr klar, dass sich von einem Tag auf den anderen nichts schlagartig ändern würde. Aber 18! Wie lange hatte sie auf dieses Ereignis hingefiebert. Sich nichts mehr sagen lassen müssen. Kommen und gehen, wann sie wollte. Keine Rechenschaft ablegen. Entschuldigungen selbst schreiben können. Auto fahren lernen und ganz unabhängig sein! Es würde paradiesisch werden. Plötzlich war Flora überzeugt, dass ihre Zukunft glänzend und rosig wäre: Sie würde mit Carina das Abitur machen, sie würden zusammenziehen und studieren, irgendwas mit Ethnologie oder so, vielleicht wäre sie mit Yannik zusammen, richtig zusammen, und Carina hätte auch einen Freund. Es kam ihr seltsam vor, dass Carina nie einen Jungen erwähnte, den sie süß fand. Sie wechselte meist das Thema, wenn Flora sie darauf ansprach. Vielleicht mochte Carina ganz einfach keine Jungs? Vielleicht war sie… Quatsch, dachte Flora. Und doch tauchten Carinas strahlend blaue Augen in ihrem Inneren auf. Die Flora fixierten, festnagelten. Und deren plötzliche Düsternis Flora manchmal nicht deuten konnte. Aber sicher, überlegte sie, hatte das etwas mit Deutschland zu tun. Die Menschen hier waren nicht so leichtlebig wie die Brasilianer. Sie waren irgendwie bodenschwerer, manchmal vielleicht auch tiefsinniger, vor allem aber nicht so ausgelassen und so ungeheuer herzlich wie Floras Landsleute.
Mit Schrecken stellte sie fest, dass sie schon seit ein paar Tagen weder ihre Mails abgefragt noch ihre Facebook-Seite besucht hatte. Und sie hatte es nicht einmal vermisst. Ein paar SMS von Ana-Sophie und Joao hatte sie beantwortet, während sich Elizeu nicht bei ihr gemeldet hatte. Und sie sich nicht bei ihm. Sein Bild wurde immer blasser. Es wurde überlagert von den Rehaugen eines gewissen goldblonden Jungen. Flora seufzte. Mit einer Mischung aus Bedauern und Freude.
5. Kapitel
Auszug aus dem psychiatrischen Gutachten, Prof. Dr. W. Metzler vom 02.12. d. J.:
»…Die Patientin berichtet, dass sie sich in Zeiten intensiver Anspannung nur durch selbst verletzendes Verhalten (im folgenden SVV genannt) eine Druckerleichterung verschaffen könne. (…) SVV bedeutet nicht in jedem Fall die Verletzung des eigenen Körpers, es kann sich auch in einem selbst gefährdenden Risiko-Verhalten manifestieren. Oft dient dieses Verhalten der Stressreduktion…«
Und dann war ganz schnell ihr Geburtstag gekommen. Flora fand es schön, dass er ausgerechnet auf einen Samstag fiel und sie dadurch ein richtig gemütliches Familienfrühstück machen konnten – natürlich ein echt brasilianisches mit süßem Kuchen, Käse-Schinken-Sandwiches, frisch gepresstem Saft und sogar Zimtäpfeln und dickschuppigen Früchten, deren Fleisch unvergleichlich süß und cremig schmeckt und die zart nach Vanille und Zimt duften.
»Musste ich ganz schön suchen, bis ich die hier gefunden habe«, berichtete Leticia. »Hab auch nur welche aus Asien bekommen, nicht aus Brasilien.« Was Flora nicht weiter störte. Eher schon, dass sie sich beeilen musste, bevor Lucas alles weggefuttert
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