Rachekuss
habt getrunken oder so?«
»Ich hab nichts getrunken!«
»Ich mein ja nur. Wir haben schließlich auch schon ein Glas Prosecco bei Mr Bleck gehabt. Weißt du das noch?«
Flora schüttelte erneut den Kopf und rührte ratlos in ihrer Teetasse.
»Aber selbst wenn – wer schneidet mir denn dann die Haare ab? Und klaut meine Unterhose? Und verletzt mich an der Wange? Klaut aber nicht mal das Geld aus meiner Tasche. Und lädt mich dann am Dechsi ab? Kannst du mir das sagen?«
»Meine arme Flora«, sagte Carina und strich ihr über die Wange. »Ich habe keine Ahnung. Willst du zur Polizei gehen?«
Flora zog verächtlich die Mundwinkel herunter. »Nein. Was soll ich denen denn sagen? Mich haben Außerirdische entführt und perverse Spielchen mit mir gemacht? Die lachen sich schlapp!«
»Aber irgendwie müssen wir doch rausfinden, was passiert ist. Hast du vielleicht Geräusche gehört? Grelle Farben gesehen? Irgendwas?«
Flora schüttelte ihren Kopf schneller und schneller. »Nein, verdammte Kacke, Merda, gar nichts. Alles ist nur schwarz. Alles. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist, dass mich heute Morgen meine Eltern per Telefon geweckt haben. Ich weiß nicht mehr, was die mir erzählt haben. Ich kann dir nicht mal sagen, was ich heute für eine Unterhose anhatte! Boah… wenn ich mir vorstelle…« Ihre Stimme erstarb. Erneut rollten Tränen ihre Wangen herunter. Carina rutschte enger an sie heran und legte die Arme um ihre Schultern.
»Denk nicht darüber nach. Vielleicht haben sie sich nur einen dummen Scherz erlaubt und dir die Unterhose geklaut. Mehr nicht.«
»Ein Scherz? Das ist doch kein Scherz! Das ist wie eine… weißt du, das ist fast schlimmer als eine Vergewaltigung: Ich weiß noch nicht mal, ob es tatsächlich geschehen ist – aber es könnte geschehen sein – und das ist so was von pervers.«
»Lass dich untersuchen!«
Flora legte den Kopf auf Carinas Schulter.
»Ich will nicht. Ich kann nicht. Ich mag mich nicht anfassen lassen. Von Fremden. Ich will erst wissen, was passiert ist. Hilfst du mir, es rauszufinden?«
»Klar«, sagte Carina leise. »Klar helfe ich dir. Ich weiß nur nicht, wie. Soll ich heute Nacht hierbleiben?«
Flora nickte dankbar. »Ich will nach Rio zurück. Weißt du, dort gibt es so viel Scheiße, die sich kein Mensch hier vorstellen kann – die Armut, die Kriminalität, der ganze Dreck –, aber da fühle ich mich sicher. Und ausgerechnet hier, in diesem stinkreichen, ach so sicheren Land – da passiert mir so was!«
»Vielleicht können wir deine Eltern überreden, dich zurückzuschicken. Du bist schließlich 18.«
Flora zog die Augenbrauen hoch und schloss dann die Lider. Sie wollte nur noch schlafen. Einfach schlafen.
Seltsamerweise gelang es ihr. Sie schlief so tief, als habe sie ein Narkosemittel bekommen. Schwer und erschöpft fühlte sich ihr Körper an, als habe sie zu viel Sport gemacht. Erst gegen Mittag wurde sie am Donnerstag wach und war heilfroh, dass noch Ferien waren.
Carina, die auf der Besuchermatratze neben ihr geschlafen hatte, war nicht mehr im Zimmer, dafür hörte Flora aus der Küche Geschirrklappern. Hell schien die Sonne durchs Dachfenster auf ihren rosa Mädchenalbtraum, der Flora plötzlich wie ein behaglicher Hort der Sicherheit vorkam.
Was war geschehen? Was war nur geschehen? Dies war der einzige Gedanke, den Flora zu fassen vermochte. Höchstens fünf Sekunden war sie nach dem Aufwachen dagelegen und hatte sich gefreut, dass die Sonne schien. Dann war ihr alles wieder eingefallen. Besser gesagt: Es war ihr nichts eingefallen. Nicht, was gestern mit ihr geschehen war. Nicht, wer ihr so etwas angetan haben konnte. Wenn sie doch nur einen Zipfel, einen winzigen Erinnerungs-Zipfel zu packen bekäme, vielleicht könnte sie sich dann von Erinnerung zu Erinnerung vorwärtshangeln, um am Ende das Geschehene zu überblicken. Doch im Moment war alles so undurchdringlich wie der Regenwald Amazoniens.
Am Abend war Flora einfach ins Bett gewankt, schwach und gestützt von Carina. Nun war ihr dringendstes Bedürfnis, all den Schmutz von sich abzuwaschen, und sie stellte sich unter die warme Dusche. Sie sah ihre Hose, die an den Knien zerschlissen war, und dachte an ihre Unterhose. Während sie den Duschgriff an ihrem Körper entlangführte, jeden Quadratzentimeter wusch und einseifte, wurde sie immer sicherer, dass sie nicht vergewaltigt worden war. Wenigstens das nicht. Aufatmend ließ Flora viel zu viel Haarshampoo in ihre
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