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Rachekuss

Rachekuss

Titel: Rachekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Broemme
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weich.
    »Ich geh heim«, sagte Flora und war unsicher, ob die Buchstaben in der richtigen Reihenfolge ihren Mund verließen.
    »Okay, Süße, melde mich später noch mal bei dir«, sagte Carina, küsste Flora auf beide Wangen und ging in Richtung Drogeriemarkt davon. Flora ließ sich auf eine der Bänke am Rande des Platzes fallen, als seien es Rettungsboote. Keinen Schritt würde sie mehr gehen können. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich Yannik näherte. Oder irgendein anderer, großer goldblonder Junge. Oder war es nur ein Taube? Sie kicherte. Und dann hatte der Schlaf sie gefressen.
    Wie kalt es war. Wie fürchterlich kalt. So sehr hatte sie noch nie gefroren. Langsam öffnete sie die Augen. Es war nicht hell. Auch nicht dunkel. Ein wenig unscharf. Und so kalt. Sie versuchte, ihre Jacke enger um sich zu ziehen. Aber wo war ihre Jacke?
    Der Boden unter ihr war hart und pikste. Und noch mehr Kälte strahlte von ihm ab. Wieso waren dort Bäume? Flora versuchte, sich aufzurichten. Es drehte sich alles in ihrem Kopf. Oder drehte sich die Welt mit vielfacher Geschwindigkeit um sie? Bäume rechts und links und über und unter ihr und irgendein Gezwitscher. Amseln, die ihren Abendruf ausstießen. Und dort vorne? War das Wasser? Irgendetwas glitzerte. Wie der Hafen gegenüber ihres Hauses in der Rua Urbano Santos bei Sonnenaufgang. In Rio war es nicht so kalt. Hatte sie wie Dornröschen 100 Jahre geschlafen und die Klimakatastrophe bereits stattgefunden?
    Sie sollte aufstehen. Sie sollte nicht auf dem Boden sitzen. Aber wo war sie hier? Was tat sie hier? Sie zog die Knie an und versuchte, über die Seite abzurollen, sodass sie kniete. Und jetzt aufstehen. Die Kälte presste sie nieder. Und die Schwere in all ihren Gliedern. Bäume rauschten. Das Wasser gluckerte leise. Ein letzter Sonnenstrahl verschwand hinter einer düster-grauen Gebirgswolke. Aufstehen, Flora, aufstehen, befahl sie sich. Es ging nicht. Sie hockte sich auf ihre Füße und versuchte, die Umgebung zu betrachten. Der Autofocus-Regler in ihrem Gehirn funktionierte endlich wieder. Sie befand sich auf einem schmalen Kiesweg, der direkt zum Wasser führte. Um sie herum Bäume, Gebüsch, Grasflächen. Der Himmel über ihr zeugte vom Einbruch des Abends. Gott, wie sie fror. Sie hörte das Klappern ihrer Zähne. Spürte kalten Wind ihren Nacken liebkosen. Quälerisch liebkosen. Sie umklammerte mit beiden Händen ihren Hals. Ihre Fingerspitzen trafen sich im Nacken. Sie wollte ihr Haargummi entfernen, wollte ihre Haare eine Decke sein lassen. Aber da waren keine Haare. Irritiert fuhr sie mit den Händen über ihren Schädel. Er fühlte sich an wie ein frisch geschorenes Schaf. »Meine Haare«, stotterte sie und erschrak vor ihrer Stimme, die kratzig und rau klang. Durst, sie hatte schrecklichen Durst. Sie betastete ihren Kopf, spürte kurze Löckchen an manchen Stellen, längere Strähnen an anderen. Sie musste sich sehen, tastete nach ihrer Tasche, ein Spiegel musste her, das konnte doch nicht wahr sein. Wann hörte dieser Albtraum auf?
    Keine Tasche. Das Wasser! Vielleicht konnte sie sich im Wasser erkennen. Alle Energien, die ihr noch zur Verfügung standen, bündelte sie in ihren Muskeln und endlich, endlich konnte sie aufstehen. Sie machte einen großen Ausfallschritt nach rechts und nach links, wäre am liebsten sofort wieder zusammengesunken. Der Boden schwankte wie die Planken eines Schiffes auf offenem Meer, nicht abbringen lassen, weitergehen, nicht drüber nachdenken, dachte sie und torkelte in Richtung See.
    Am Ufer ließ sie sich wieder auf alle viere fallen und beugte sich übers Wasser. Leichter Wind kräuselte die Oberfläche, ihr Gesicht bestand aus vielen schmalen Ringen, ließ sich kaum zusammensetzen und sie ahnte es mehr, als dass sie es sah: Ihre Haare waren verschwunden. Wie eine Wahnsinnige raste sie mit den Fingern durch die kläglichen Reste, als könne sie jedes einzelne Haar aus der Kopfhaut herauszerren, als befinde sich ein geheimer Mechanismus unter ihrer Schädeldecke, der jedes Haar aufgespult hatte auf einer unsichtbaren Spindel.
    Ich werde wahnsinnig, dachte Flora. Das bin gar nicht mehr ich. Sie ließ sich rückwärts in den Sand fallen, der das Ufer säumte, und schluchzte tief und zitternd wie ein Kind. »Mama«, wisperte sie, »Mama, hol mich hier fort.«
    Es wurde kälter und immer noch kälter, hatte sie den Eindruck, und die Nacht kam jetzt angesprengt, würde sie verschlucken.
    Sie presste die Hände aufs Gesicht,

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