Rachekuss
Handfläche laufen und begann, ihren Kopf einzuschäumen. Doch es war nicht mehr viel da, was sie einseifen konnte. Sie hatte gestern Abend den Blick in den Spiegel vermieden, sie hatte Angst, sich anzuschauen.
Als sie nun aus der Dusche kam, war sie dankbar für den Dunst, der sich auf den Spiegel gelegt hatte. Sie frottierte sich ab, wollte ein Handtuch um den Kopf wickeln, wie sie es immer tat nach dem Duschen, aber das war nicht nötig. Es war schon alles trocken.
Mit dem Finger malte sie ein Gesicht in den Wasserdampf auf dem Spiegel. Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht, hatte ihr Vater immer gedichtet, als sie noch klein gewesen war. Hinter den Punkten und Strichen trat nach und nach ihr Gesicht hervor. Ihre großen dunklen Augen. Die kräftige, scharfkantige Nase. Der geschwungene himbeerrote Mund. Und dann ihre Stirn, ihr Schädel. Flora sah das Entsetzen in ihren eigenen Augen. Wer war diese Fremde mit dem runden, beinahe kahlen Kopf? Wie ein Affe sah sie aus. Wie ein im Regenwald ausgesetztes verstörtes Affenjunges. Hier und da stand noch ein längeres Büschel Haare ab, als hätten die Übeltäter in aller Eile gehandelt. Ansonsten waren die Haare bis auf vielleicht einen Zentimeter abgeschnitten und die Reste ringelten sich hilflos auf ihrem Kopf. Flora griff nach einer Nagelschere und schnitt die wenigen längeren Büschel ab.
»Nicht weinen, Flora«, sagte sie sich dabei. Nicht weinen. Die Haare wachsen nach. Es ist Winter, du kannst Mützen tragen. Nicht weinen. Das verdienen sie nicht. Das sind sie nicht wert. Die, die ihr dies hier angetan hatten. Und mit einem Mal wusste sie genau, dass sie nun nicht mehr zurückgehen konnte nach Rio. Sie würde bleiben müssen – zumindest so lange, bis sie herausgefunden hatte, was mit ihr geschehen war. Das war sie sich schuldig.
Als sie in die Küche kam, hatte Carina liebevoll den Frühstückstisch gedeckt, mit Blümchen und frischen Brötchen, gekochten Eiern und einer großen Kanne Kaffee samt aufgeschäumter Milch.
»Gut geschlafen?«, fragte sie und Flora war froh, wie unbefangen Carina klang. Sie nickte und ließ sich am Esstisch nieder.
»Und ich habe sogar einen Bärenhunger«, sagte sie und griff nach einer Semmel.
»Schön«, sagte Carina, setzte sich ihr gegenüber und musterte ihre Freundin eine Zeit lang. »Ich traue es mich ja kaum zu sagen – aber du siehst schön aus. Hübsch warst du schon immer. Aber jetzt bist du wirklich schön. So aristokratisch, edel.« Flora wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und goss viel zu viel Kaffee in ihre Tasse. Carina fuhr fort: »Ich hab noch mal nachgedacht, vielleicht ist es doch besser, wenn du zur Polizei gehst.«
»Aber was soll ich denen denn sagen?« Floras Stimme klang lauter als beabsichtigt.
»Und wenn das Ganze einen rassistischen Hintergrund hat? Hast du darüber schon mal nachgedacht? Denk mal an die Hühnerleber unter deiner Bank. Das war auch so was wie ein Anschlag – um dich zu erniedrigen.«
»Aber in unserer Schule gibt es doch keine Rechten, oder?«
Carina zuckte mit den Schultern. »Ich hab nur Angst, dass die immer weiter gehen und dich immer mehr drangsalieren. Ich meine, das gestern, das ging ja gerade noch mal gut aus. Aber wenn die gewollt hätten – die hätten dich doch, na ja, umbringen können.«
»Aber wer sind denn die?« Flora brachte es nicht fertig, in ihr Käsebrötchen zu beißen. Sie starrte auf das verschmierte Messer in ihrer Hand.
»Was weiß ich, wer die sind.«
»Yannik ist es jedenfalls nicht«, beeilte sich Flora zu sagen. »Der war hier, als die tote Maus gegen die Scheibe geworfen wurde.«
»Na ja, das ist kein Beweis.« Carina pustete über ihre Kaffeetasse. »Vielleicht macht er das ja nicht allein. Und hast du nicht gesagt, er hat dir gedroht, als du ihn am Dienstagabend rausgeworfen hast?«
»Ja, schon, aber der war doch nur enttäuscht, dass ich nicht mit ihm geschlafen habe. Der würde mir so was doch nicht antun.«
»Ich wäre mir da nicht so sicher. Denk an das, was ich dir über diese Natalie erzählt habe. Das hatte schon so Stalker-Züge, was Yannik mit der angestellt hat. Telefonterror und so. Und das hat er bei dir doch auch schon gemacht.«
»Am Anfang, ja, aber er hat sich dafür entschuldigt.«
Carina sah nachdenklich in den Garten hinaus.
»Mir kommt aber gerade noch ein ganz anderer Gedanke.«
»Was denn?«
»Wieso sind wir da nicht schon früher darauf gekommen, Mist. Na, überleg doch mal:
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