Rachekuss
wirbelten in ihrem Kopf herum. Yannik und Leonie und Carina und wer wo gewesen war und was gesagt hatte und wieso und warum.
»Darf ich?«, schreckte eine Männerstimme sie hoch, und noch ehe sie etwas sagen konnte, ließ sich Pierre Edinger neben ihr nieder. Der hatte ihr gerade noch gefehlt!
»Ich wusste gar nicht, dass Sie auf meiner Buslinie wohnen«, sagte er, ernst wie immer.
»Tu ich auch gar nicht«, antwortete Flora schnell und ihr wurde klar, dass sie immer noch nicht wusste, wohin der Bus überhaupt fuhr. Als sie es auf der elektronischen Anzeige über dem Fahrer erkannte, stockte ihr der Atem. Ausgerechnet zum Dechsendorfer Weiher war sie unterwegs.
»Ich will eine Freundin besuchen, von früher«, setzte sie nach und hoffte, er würde nun Ruhe geben. Am besten, sie würde an der nächsten Haltestelle aussteigen.
»Wie gefällt es Ihnen in Erlangen?«, machte er weiter mit seinem Small Talk. »Ist sicher nicht einfach, sich hier einzuleben.«
»Geht schon«, presste Flora hervor. Wieso merkte der Typ nicht, wie sehr er nervte? Und plötzlich drängte sich ihr eine Frage auf. »Wo wohnen Sie denn?«
»Oh, gleich ums Eck vom Dechsi«, kam die Antwort. »Schöne Gegend da. Ich bin ein echtes Landei, selbst eine Stadt wie Erlangen ist mir schon zu groß. Ich bin froh, dass ich da ein Häuschen mit kleinem Garten gefunden habe. Und am Wochenende geht’s dann mit dem VW-Bus so richtig raus in die Natur. Am liebsten in die Fränkische. Ich klettere ganz gern und da gibt’s ja herrliche Plätze. Kennen Sie die schon?«
Flora hatte den Eindruck, sie starrte ihn an wie einen Verrückten. Aber er reagierte nicht auf ihren irritierten Blick. Immer wieder hörte sie nur das Wort »VW-Bus« aus seinem Mund quellen, bald wäre der ganze Bus vollgelaufen davon…
»…wollte den Kurs im Sommer dann mal zum Grillen einladen«, redete er weiter und Flora wurde klar, dass sie einige Sätze verpasst hatte.
»Mir ist schlecht«, konnte sie nur sagen und schon wurde sein Blick, der bei seiner Ankündigung ein gewisses freudiges Glühen angenommen hatte, wieder finster.
»Flora, ich weiß, es geht mich nichts an – aber wenn Sie Probleme haben – Sie können über alles mit mir reden.« Flora nickte und sehnte sich einmal mehr nach ihren langen Locken, hinter denen sie ihr Gesicht früher immer hatte verstecken können.
»Danke, es ist nichts«, sagte sie leise und starrte wieder aus dem Fenster. Sie sollte aussteigen, nichts wie weg hier, aber sie kam sich vor wie gelähmt.
»Wissen Sie«, redete Edinger einfach weiter. »Ich bin ja auch neu hier in der Gegend. Ich hab in München studiert, meine Familie ist drunten im Allgäu, ich komme mir oft ganz schön einsam hier vor. Ich mein, ich bin zwar auch ganz gerne allein und so, aber na ja, ein paar Freunde wären schon ganz nett. Und mit den anderen Lehrern… okay, Entschuldigung, das wird Sie nicht weiter interessieren. Ich wollte nur sagen… na ja, ich kann schon verstehen, wenn es Ihnen hier nicht so gut geht, wissen Sie.«
»Wieso heißen Sie eigentlich ›Pierre‹?«, fiel Flora auf einmal zu fragen ein.
»Meine Mutter war Französin«, sagte er. »Da haben wir etwas gemeinsam, oder? Ihre Mutter ist doch auch keine Deutsche, richtig?« Flora nickte.
»Meine Mutter ist schon vor langer Zeit gestorben«, fuhr er fort. »Nur mein Name erinnert mich immer an sie.«
Endlich schwieg auch er. Flora nahm sich an jeder Bushaltestelle vor, aufzustehen und auszusteigen. Es gelang ihr nicht. Sie starrte auf die immer ländlicher werdende Umgebung draußen, und als der Bus nach fast zwanzig Minuten Fahrt an der Endstation Dechsendorfer Weiher anhielt, sah sie durch die kahlen Bäume das Wasser des Sees schimmern. Pierre Edinger erhob sich.
»Hier ist Schluss«, sagte er und es schien, als warte er darauf, dass sie zusammen mit ihm aussteigen würde. Langsam erhob sich Flora. In ihrem Magen rumpelte es unangenehm.
»Soll ich Ihnen vielleicht einen Tee kochen?«, fragte er schnell und fuhr ebenso schnell fort. »Aber nein, natürlich nicht. Oder?« Flora musste zum ersten Mal lächeln. Und hinter ihrer Stirn tauchte der Gedanke auf, dass er sie vielleicht einfach nur mochte. Und etwas ungeschickt war.
Ohne ihm die Gelegenheit für ein weiteres Gespräch zu geben, verabschiedete sie sich und ging, leicht benommen, zum Seeufer. Noch einmal drehte sie sich um und sah Edinger eine kleine Gartenpforte durchqueren, hinter der ein Hexenhäuschen stand, dessen weiße
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