Rachekuss
Wände von Rosen oder Weinreben bewachsen waren. Vor dem Jägerzaun stand auf der Straße sein VW-Bus. Cremeweiß war er. Flora atmete viel zu schnell und drehte sich weg. Sie starrte aufs Wasser. Langsam atmen, langsam.
Ohne all diese Gedanken in ihrem Kopf hätte sie genießen können, wie schön es hier tatsächlich war. Das Licht ergoss sich kühl und klar über den Weiher, die kahlen Bäume reckten ihre Äste wie flehende Hände in den weißen Himmel, von der Wasseroberfläche verdoppelt. Flora tat zögerlich ein paar Schritte und erkannte auf der gegenüberliegenden Seite des Sees »die Stelle«. Dieser unscheinbare Ort, harmlos, alltäglich, austauschbar. Und doch ein Ort des Schreckens. Was war nur geschehen?
Flora hatte auf einmal den Eindruck, sie sei ein winziges Wesen, das ins Visier von etwas Großem geraten war, etwas, das sie nicht überblicken konnte, von dem sie aber kontrolliert wurde wie eine Marionette. Es musste doch einen Grund dafür geben – für die Hühnerleber, die schreckliche Party, für die tote Maus und jetzt die Entführung. Das war doch keine Kette von Zufällen, da steckte doch Methode dahinter! Wer hasste sie so sehr, dass er ihr all dies antat? Wen hatte sie innerhalb der kurzen Zeit, die sie erst hier war, so schnell gegen sich aufgebracht? Sie versuchte, die Wochen durchzugehen, die sie nun hier lebte. Aber nirgends fand sich ein Haken, an dem ihre Gedanken hängen bleiben konnten. Yannik, ein Stalker? Leonie, eine Satansbraut? Edinger, ein verquerer Psychopath?
Flora nahm das iPhone aus ihrer Tasche und wählte Ana-Sophias Nummer. Vielleicht konnte jemand aus ihrer alten Welt diese neue erklären, ein bisschen zumindest. Manchmal hatten ja diejenigen, die weit fort waren, die bessere Übersicht, konnten die richtigen Fragen stellen. Aufgeregt hörte sie das Tuten, das irgendwo viele Tausend Kilometer weit fort nun in Form einer Samba-Melodie einen Raum durchdrang. Und dann hörte sie auch schon ein leises »Olá?« und Flora redete einfach drauflos, atemlos, ohne Pausen und es schien ihr, als könne sie endlich wieder einmal richtig reden, sich richtig ausdrücken, sich verständlich machen in dieser wunderschönen, melodiösen Sprache, die hier niemand verstand.
»Desculpa, desculpa«, hörte sie Ana-Sophia, immer noch leise und dann kamen wenige kurze Sätze, die ihr klarmachten, dass auf der anderen Seite der Welt auch ein anderes Leben herrschte – dort war es früh am Morgen und Ana-Sophia saß im Unterricht und durfte eigentlich gar nicht telefonieren. Flora wurde auf den Abend vertröstet und als sie auflegte, standen ihr die Tränen in den Augen. Desculpa, desculpa, hämmerte es in ihrem Kopf. Sie war es, die sich entschuldigen musste, sie hatte nicht darüber nachgedacht, wo und wie sie Ana-Sophia antreffen würde, dass ihr Anruf völlig unpassend war. Weil sie wieder nur an sich gedacht hatte. »Desculpa«, murmelte sie. Und sah plötzlich ein schwarzes Gesicht vor sich. Ein rundes schwarzes Gesicht.
Flora hatte wirklich geglaubt, man würde ihr gerne helfen. Deshalb hatte sie nicht gezögert, als sie die Polizeiinspektion in der Schornbaumstraße betrat. Sie hatte es als gutes Omen gewertet, dass dieser Schmittberger tatsächlich Dienst und für sie Zeit gehabt hatte. Aber als sie nun auf dem Stuhl vor ihm saß, wich ihr Mut wie Luft aus einem Luftballon.
»Ist Ihnen noch etwas eingefallen?« Immerhin wirkte der Beamte heute nicht ganz so mürrisch wie letzten Samstag. Vielleicht hasste er einfach Wochenenddienste. Flora erzählte von dem weißen Transporter und dem schwarzen Mann im Café. Um Schmittbergers Mund spielte ein ganz leichtes Lächeln. Dann schüttelte er sanft den Kopf und sah Flora fragend an.
»Junge Frau«, sagte er und Flora hasste seinen pastoralen Tonfall. »Sie erzählen mir doch nicht allen Ernstes, dass ein schwarzer Mann, der irgendwie in Ihrem Kopf herumspukt, sie in einem weißen Transporter verschleppt hat. Fehlen nur noch die Marsmännchen.«
»Aber, bitte«, stammelte Flora, ohne zu wissen, wie sie überzeugender klingen konnte. »Sie müssen mir glauben. Ich meine, wie einfach ist es denn, mir in einem Café irgendwas in meinen Cappuccino zu schütten… das passiert in Discos doch auch ständig.«
Schmittberger lehnte sich zurück, verschränkte die Arme über seinem Bauchansatz und schüttelte energisch den Kopf.
»Ach, diese K.-o.-Tropfen werden völlig überschätzt. In höchstens zwei bis drei Prozent aller
Weitere Kostenlose Bücher