Rachekuss
verhältst, wie du sie verarbeitest.« Flora hatte das Gefühl, ihr würde der Rachen zugeschnürt. Sie hätte beinahe nach Luft gejapst. Mit einem Schluck Wasser versuchte sie, alles runterzuschlucken. Doch die Wut blieb.
»Ach, du glaubst doch auch nur, dass ich mir das alles nur ausgedacht habe, damit ihr mich wieder zurück nach Brasilien lasst«, schrie sie ihren Vater an. »Du glaubst, ich habe einen Knall, ich bin verrückt, mir ist jedes Mittel recht, um meinen Willen durchzudrücken.«
»Nein, nein, Flora, bitte«, auch ihr Vater wurde lauter. »Ich glaube nicht, dass du dir etwas ausgedacht hast. Das siehst du doch gerade daran, dass ich der festen Überzeugung bin, dass du Hilfe von außen brauchst. Nur ein Psychologe kann dir helfen, diesen Druck loszuwerden. Das ist ja das reinste Mobbing, was du da mitmachst. Ich wollte, wir könnten dir selbst mehr helfen – aber das geht nicht. Glaub mir, es ist besser, wenn wir uns Hilfe von jemandem holen, der für so etwas ausgebildet ist. Das kann keiner alleine verkraften.«
»Ich kann das – ich bin nicht verrückt« Flora war noch immer laut. »Ich brauche keinen Psychoonkel, das kannste knicken!«
Sie lief aus dem Zimmer, schnappte sich an der Garderobe ihre Jacke und rannte hinaus. Wie ein Hammerschlag traf sie die kalte Nachtluft und sie zog erschrocken die Jacke eng um sich. Sie wusste gar nicht, wohin sie wollte, sie lief, sie sog die Kälte tief in sich ein und hatte das Gefühl, das erste Mal an diesem Tag fülle überhaupt frischer Sauerstoff ihre Blutbahnen, könne sie richtig denken. Sie rannte und wurde immer schneller und irgendwann sah sie an der hässlichen Fassade des Mietsblock hoch, in dem Carina wohnte. Es war erst kurz nach zehn, sicher konnte sie dort noch klingeln. Bestimmt wäre Carina froh, wenn Flora zu ihr käme. Hoffnungsfroh drückte sie den Knopf und nach kurzer Zeit öffnete sich tatsächlich die Tür.
Abgestandener Essensgeruch schlug ihr entgegen und sie war froh, dass der Aufzug im Erdgeschoss wartete.
»Haste wieder deinen Schlüssel vergessen, Schlampe«, dröhnte es ihr im fünften Stock entgegen, als sie ausstieg. In der Tür zur Meyer-Grabow’schen Wohnung lehnte eine Gestalt mit wirrem Haar und einem fleckigen Bademantel. Der Alkoholdunst schlug Flora schon von Weitem entgegen und sie wusste plötzlich genau, dass es keine gute Idee gewesen war, hierherzukommen.
»Ist Carina da?«, fragte sie trotzdem.
»Nee, das Miststück treibt sich sicher wieder mit irgendwelchen Kerlen rum«, lallte Melissa Meyer-Grabow und sah Flora neugierig an. »Kenn ich dich?«
Flora zuckte mit den Schultern. »Ich bin Carinas Freundin. Ich war nur einmal kurz hier«, sagte sie dann. »Ich geh dann mal besser wieder. Sagen Sie Carina einen Gruß von mir. Von Flora.«
»Flora?«, murmelte die Frau. »Du willst eine Freundin sein? Meine Tochter hat keine Freunde – hattse noch nie gehabt. Dafür ist sie ein viel zu großes Miststück, eine böse Hexe, ein durchtriebenes Luder, wirste auch noch merken, du Seelchen, du armes.«
Flora bemühte sich nicht einmal um einen höflichen Abschiedsgruß, sondern verschwand schnell im Aufzug. Wie schrecklich musste es sein, eine besoffene Mutter zu haben, die vor anderen so schlecht über einen redete. Grauenhaft!
Um Carina vor der Tür abzufangen, dafür war es zu kalt. Flora überlegte, wo sie hingehen könne, als sie plötzlich das Geräusch eines Wagens hörte, der vorne an der Straße anhielt. Sie konnte durchs Gebüsch, das den Zugang zum Hochhaus von der Straße abschirmte, Stimmen hören, eine weibliche und eine männliche, die aber nur wenige einzelne Wörter sprach. Dann knallte eine Tür und endlich entdeckte Flora den Wagen, als er schon in die Nacht davonbretterte. Er war weiß und sah wie ein Kastenwagen aus. Langsam kam Carina direkt auf sie zu.
Flora begann zu zittern. »Hallo«, sagte sie vorsichtig. Ihre Freundin zuckte trotzdem zusammen und stieß einen kleinen Schrei aus. »Boah, Mann, hast du mich erschreckt!« Carina klang sauer. »Lauerst du mir im Gebüsch auf?«
»’tschuldigung, nein, natürlich nicht. Ich wollte dich besuchen. Ich musste einfach raus. Aber…«
»Keine gute Idee im Moment.«
»Hab ich gemerkt.«
Sie standen einander gegenüber, als seien sie Fremde, die nicht das Geringste miteinander zu tun hatten.
»Wo warst du?«, getraute sich Flora zu fragen. »Bist du gerade aus dem Transporter da gestiegen?« Carina nickte langsam.
»Ich hab meinen Onkel
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