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Rachekuss

Rachekuss

Titel: Rachekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Broemme
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es. Doch dann blieb ihr Finger in der Luft hängen. Zitternd. Wollte sie das wirklich? Und wer wusste schon, welche Unruhe das vielleicht schrille Klingeln um diese Uhrzeit auslösen würde? Sie wollte ihn anrufen, aber dann wurde ihr klar, dass ihr Handy abgeschaltet in ihrem Zimmer lag. Mist.
    Sie starrte am Haus empor – und plötzlich erkannte sie seinen langen Oberkörper, das Haar, das ihm beinahe in die Augen fiel, und sie sah, wie er gerade dabei war, die Jalousie herunterzulassen.
    »Yannik«, versuchte sie, so leise wie möglich zu rufen, was natürlich ein Widerspruch in sich war. Nirgends lag ein Steinchen herum, das sie hätte werfen können, und sie bezweifelte sowieso, dass sie getroffen hätte. Aber da fiel sein Blick tatsächlich auf die Straße und sie winkte und er erkannte sie und öffnete das Fenster. Sie meinte, Glanz in seinen Augen zu sehen.
    »Warte«, er legte seine Hände an den Mund, damit auch er nicht so laut reden musste und sie ihn trotzdem verstand. »Ich komme runter und lasse dich rein. Meine Eltern sind eh nicht da – aber ich wette, sie kommen gleich zurück.«
    Er küsste sie erst, als sie oben in seinem Zimmer standen. Es war einer dieser typischen kaum zwölf Quadratmeter großen Räume, in denen ein schmales Bett, ein Schreibtisch, ein Kleiderschrank und ein Regal mit Büchern und CDs eingepfercht waren. Chaos herrschte vielleicht nicht gerade, aber aufgeräumt wirkte es auch nicht. Mit einem Mal wurde Flora bewusst, dass Yannik ein ganz eigenes Leben hatte, das ohne sie stattfand und von dem sie kaum etwas wusste. Und sie war plötzlich neugierig, wie dieses Leben wohl aussah. Doch im Moment, das spürte sie sofort, zählte nichts aus diesem Leben – es zählte nur sie und dass sie hier war. Yannik schloss seine Zimmertür ab und grinste sie an. Sein Blick durchfuhr sie, entkleidete sie, ohne dass sie auch nur ihre Jacke abgelegt hatte. Mit wenigen Schritten war sie bei ihm und zum ersten Mal war sie es, die ihn küsste. Lange standen sie umschlungen da, sie hatten längst die Wohnungstür gehört und die Eltern, die ins Wohnzimmer gingen und den Fernseher anmachten. Die Stimmen wurden leiser, als sich die Tür dort schloss, und nun wurde Yanniks Bett zu einer Insel, zu ihrer Insel, auf der niemand sie erreichen konnte, von der sie nicht fortwollten und die ihnen sicher und geborgen erschien. Wo sie endlich all ihre inwendigen und äußerlichen Hüllen fallen lassen konnten und sich aufeinander konzentrierten und ineinander aufgingen und sich nicht mehr vorstellen konnten, sich jemals wieder loszulassen.
    Es ging schon auf sechs Uhr früh zu, als Flora Yannik verließ. Sie flüsterten und unterdrückten Gekicher, während sie zur Wohnungstür schlichen. Yannik hatte angeboten, Flora durch die noch dunkle Stadt nach Hause zu begleiten, aber sie hatte abgelehnt. Sie war stark und brauchte keinen Schutz.
    Es war zwar eisig kalt, aber die Morgenluft tat Flora gut. Als ob alle bösen, traurigen, beschämenden Gedanken davonflögen und nur Reinheit zurückbleiben würde. Die Stadt wirkte wie ausgestorben, nur wenige Autos fuhren, Zeitungsausträger verteilten Zeitungen und ein paar Straßenreinigungsmaschinen drehten ihre Runden.
    Yannik-Yannik-Yannik klapperten die Pedale ihres alten Fahrrads. Flora hatte das Gefühl, ihre Wangen glühten, sie meinte, noch immer seine Finger auf ihrer nackten Haut zu spüren. Und sie gestattete sich endlich zu denken, wie gerne sie ihn hatte. Mehr als gerne. Es war kein Verrat an Elizeu oder irgendeinem anderen. Brasilien – das war ein anderes Leben gewesen. Mit einem Mal fühlte sie sich richtig erwachsen, stark. Alles, was geschehen war – es durchfuhr sie wie eine Erleuchtung –, war nur geschehen, um sie zu einer Erwachsenen zu machen, reif zu werden. Zu erkennen, wie stark sie tatsächlich war. Was sie alles aushielt. Sie hatte die Prüfungen der letzten Wochen überstanden, sie war nicht zusammengebrochen und nun hatte sie ihre Belohnung erhalten. Yannik. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie sich sein zartes und doch so männliches Gesicht vorstellte. Seinen wunderschönen Körper, das, was sie mit ihrer beider Körper zuwege gebracht hatten. Diese Lust und Freude miteinander, aneinander, durch einander. Alles würde gut werden, da war sich Flora mit einem Mal sicher.
    Wo die Henkestraße und die Werner-von-Siemens-Straße zusammentrafen, musste Flora absteigen. Eine Baustelle hatte den letzten leeren Platz krakenartig in

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