Rachekuss
Schloss des Tores steckte, wich er zurück.
»Merda«, hörte sie ihn rufen. »Was ist das denn?« Flora huschte in Hausschuhen und Nachthemd nach draußen. Sie fror wie immer in diesem verdammten Land und schlang die Arme um ihren dünnen Körper. Und dann erkannte sie es.
»Hier wohnt eine Tiermörderin«, stand in riesigen, blutig roten, leicht verschmierten Lettern auf dem Garagentor und ein Pfeil zeigte nach links zum Haus. Flora ging in die Hocke. Sie hatte das Gefühl, sie würde gleich in die Hose machen. Theo eilte herbei, legte den Arm um sie und führte sie zurück ins Haus. Dann weckte er Leticia, erklärte ihr kurz die Lage und verschwand.
Flora hatte inzwischen ihren Computer hochgefahren. »197 neue Mails« verkündete ihr Mailprogramm. Ungläubig blickte sie auf die Kolonne von Beschimpfungen, Drohungen und Beleidigungen. In schlechtem Deutsch, angereichert mit Dutzenden von Rechtschreibfehlern, wurde sie angegriffen. Und immer wieder ging es ums Gleiche: Sie sei eine Tierquälerin und verdiene den Tod. »Isch weiß, wo dein Haus wohnt«, hatte einer gedroht. Wäre es nicht so unglaublich, Flora hätte sich totgelacht. Unfassbar war das. Sprachlos starrte sie auf den Bildschirm, unfähig, sich zu regen.
Flora spürte, wie sich etwas in ihr ausschaltete. Als drehe man ihr den Saft ab. Sie konnte sich nicht bewegen, spürte kaum die Hand ihrer Mutter, die sich auf ihre Schulter legte. Sie nahm wahr, dass ihre Mutter den Computer abschaltete, ihr half aufzustehen und sie zu ihrem Bett führte.
»Leg dich hin«, hörte sie ihre Muttersprache. Sie gehorchte. Zu etwas anderem wäre sie sowieso nicht in der Lage gewesen. Sie sah, wie ihre Mutter das Handy ausschaltete, das schon wieder zu läuten angefangen hatte. Dann schloss sie die Augen. Überall in ihrem Kopf dröhnte und klingelte und hämmerte und lärmte es. Aber das konnte auch schon ein Traum sein.
Als sie gegen Mittag erwachte, war es ganz still im Haus. Sie merkte, dass sie dringend auf die Toilette musste, und schleppte sich mühsam ins Bad. Alles war nur noch mühsam, unerklärlich, nicht mehr fassbar. Sie musste zurück nach Brasilien. Wie hatte sie sich davon nur abbringen lassen können? Sie würde noch heute mit ihren Eltern reden und dann zurückkehren. In die Sonne.
Sie hörte Stimmen aus dem Wohnzimmer, griff nach ihrem Bademantel und ging nach unten. Ihre Mutter saß am großen Esstisch, ein Mann, den Rücken Flora zugewandt, ihr gegenüber. Ein schmerzliches Lächeln ging über Leticias Gesicht und sie stand auf, um Flora an den Tisch zu führen.
»Herrn Schmittberger kennst du ja schon«, sagte ihre Mutter und deutete mit der Hand kurz auf den Gast. Flora nickte und setzte sich neben ihre Mutter.
Nach einem kurzen Gruß sah Schmittberger sie ernst an. Dann drehte er ihr seinen Laptop zu, der vor ihm auf dem Esstisch stand.
»Wir nehmen an, dass der Grund für diese Hatz auf Sie dieses Video hier ist.« Er klickte auf den »Start«-Button eines YouTube-Films und schon rollte das Unheil vor Floras entsetzten Augen ab.
Eine junge Frau war zu sehen, aber nicht genau zu erkennen. Sie hatte in etwa eine ähnliche Statur, die gleiche Hautfarbe und ebenso lange dunkle Locken wie Flora bis vor wenigen Tagen. Die junge Frau hielt einen großen hellblauen Eimer in der Hand und trat an ein etwa ein mal ein Meter großes und ziemlich tiefes Loch irgendwo in einem reichlich verwilderten Garten. Sie griff mit der Hand in den Eimer und zog etwas heraus: etwas Kleines, Felliges mit vier Beinen. Das Etwas zappelte ein wenig und erst als es in das Loch geworfen wurde, konnte Flora erkennen, dass es sich wohl um eine kleine braun-weiße Katze handeln musste. Der ersten folgten vier weitere – die letzte schien bereits tot zu sein. Irgendetwas Klebrig-Blutiges hing von ihrem Bauch herunter. Die Nabelschnur vielleicht? Kaum war die letzte Katze in das Loch geworfen, begann die junge Frau, das Loch mit einem Spaten zuzubuddeln. Flora meinte, ganz kurz leises Winseln zu hören. Der Film endete mit einer verschwommenen Großaufnahme des lachenden Gesichtes der Katzenmörderin.
»Das ist ja widerwärtig«, entfuhr es Flora. »Aber was hat das mit mir zu tun?«
»Jemand hat Sie als Täterin geoutet. Es gibt eine Facebook-Seite »Tod der Tierquälerin«, der sich schon über 1000 Menschen angeschlossen haben. Auf dieser Seite wird behauptet, Sie seien die Tierquälerin und Ihr Name sowie Handynummer und E-Mail-Adresse werden angegeben.«
»Was?«
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