Rachekuss
nicht Carina angeklagt? Genau! Jetzt fiel es ihr wieder ein – kurz nachdem die Hühnerinnereien unter ihrer Bank gelegen hatten, hatte sie eine Warnung bekommen, Carina hätte dieses Voodoo-Gewäsch über sie in Umlauf gebracht. So ein Unsinn! Vielleicht wäre es wirklich das Beste, Leonie zur Rede zu stellen.
»Halb zwei am Parkplatz«, schrieb sie auf den Zettel und reichte ihn zurück.
»Okay«, hörte sie das seltsame Mädchen in ihr Ohr raunen.
Carina war den ganzen Vormittag nicht erschienen und Flora verfluchte ein weiteres Mal, dass sie ihr Handy noch nicht wieder aktivieren konnte. Die SIM-Karte ihres Providers mit der neuen Nummer war irgendwo mit der Post unterwegs. Yannik wollte sie nicht bitten, Carina eine SMS zu schicken, denn sie spürte, dass das Verhältnis der beiden angespannt war. Als buhlten beide um Flora.
»Hallo!«, hörte sie plötzlich die helle Stimme von Leonie und sie fuhr erschrocken herum. Wie schaffte es dieses blasse Mädchen, immer wie aus dem Nichts aufzutauchen?
»Gehen wir ein Stück?«, fragte Leonie und Flora nickte nur. Obwohl es kalt war, trug Leonie unter dem offenen schwarzen Ledermantel, ohne den Flora sie noch nie gesehen hatte, nur ein dünnes schwarzes T-Shirt mit tiefem Ausschnitt. An den Händen trug sie zarte schwarze Spitzen-Handschuhe. Wären ihr Gesicht und ihre Frisur nicht so unspektakulär gewesen, hätte sie beinahe als Fürstin der Finsternis durchgehen können.
Flora beschloss, nicht lange um den heißen Brei herumzureden. Sie hatte keinen Grund, mit Leonie freundschaftlichen Small Talk zu machen.
»Was willst du?«, fragte sie also direkt. Sie überragte Leonie beinahe um einen Kopf. Das Mädchen musste sich anstrengen, mit ihr Schritt zu halten.
»Ich glaube, ich weiß nicht«, fing Leonie nicht sehr vielversprechend an. »Also…«
»Ja?«, unterbrach Flora sie ungeduldig.
»Es wird Zeit, dass dir mal jemand die Wahrheit sagt«, brachte sie schließlich hervor.
»Was für eine Wahrheit?«
»Die Wahrheit über Carina.« Leonie schwieg und sah auf ihre staubigen Stiefelspitzen. Der Saum ihres schwarzen, zipfeligen Rocks berührte beinahe den Asphalt. Ohne sich darüber verständigt zu haben, strebten sie den kleinen Park am Bohlenplatz an.
»Was meinst du?«, fragte Flora. Sie bemühte sich, ruhig zu klingen. Aber in ihrem Inneren sperrte sich alles dagegen, Verleumdungen über ihre Freundin zu hören.
»Carina ist nicht deine Freundin«, sagte Leonie und Flora konnte nur noch auf die Lautverzerrungen ihres Dialekts hören. »Die ist böse. Die hat früher schon andere Mädchen fertiggemacht. Wer sich der in den Weg stellt…« Sie fuhr mit der flachen Hand vor ihrem Hals entlang.
»Also, Moment mal…« Jetzt platzte Flora doch der Kragen. Wollte eine Satanistin oder Emo-Tussi oder was immer Leonie vorgab zu sein, ihre beste Freundin verleumden, die ihr in den letzten Wochen so sehr geholfen hatte?
»Was für ein Scheiß«, schrie Flora und eine Fußgängerin mit einem Kinderwagen sah sich irritiert nach ihr um. Leonie zog Flora vom Gehsteig auf einen der gekiesten Parkwege, wo es um diese Uhrzeit völlig still war.
»Ich versteh schon, dass du mir nicht glauben magst«, nickte Leonie. »Aber ich kenn Carina schon seit der Grundschule. Und es ist immer dasselbe bei ihr: Sie sucht sich ein Mädchen, schleimt sich bei der ein, und wenn sie ihr Vertrauen hat, dann macht sie die fertig und wirft sie weg wie eine zerquetschte Zitrone.« Flora stemmte die Hände in die Hüften und baute sich zornig vor Leonie auf.
»Weißt du, was ich glaube?« Hier störte niemand ihr Schreien. »Ich glaube, dass du nur wahnsinnig eifersüchtig bist, weil sich Carina und ich so gut verstehen und über dich die halbe Schule lacht. Warum sollte Carina so etwas tun – kannst du mir das sagen?«
»Na, ganz einfach!« Leonie lächelte, Floras Angriffe schienen sie nicht zu verunsichern. »Weil du ihr Yannik ausgespannt hast.«
»Boah – was für eine Scheiße ich mir anhören muss! Ich glaub’s nicht! Yannik und Carina – das ist das Idiotischste, was ich je gehört habe. Die beiden können sich nicht mal leiden.«
»Und hast du dich mal gefragt, warum? Weil Carina Yannik angebaggert hat wie blöde und er sie nicht wollte. Und das verzeiht sie ihm nie! Und dir verzeiht sie auch nicht, dass du ihn dir jetzt gekrallt hast.«
Flora hätte gerne etwas in der Hand gehalten, etwas, das sie hätte zerbrechen können.
»Du redest so einen Unsinn – du solltest
Weitere Kostenlose Bücher