Rachekuss
dich mal hören! Ich fass es nicht, dass ich hier mit dir steh und mir so was anhören muss! Angenommen es wäre so, wie du sagst, nur mal angenommen – meinst du nicht, Carina hätte längst akzeptiert, dass es zwischen ihnen nichts wird, und vor allem – sie hätte mir davon erzählt. Sie erzählt mir alles!« Flora konnte es nicht fassen, dass Leonie spöttisch grinste.
»Meinst du, ja? Ich sag dir was: Carina lügt, wenn sie den Mund aufmacht!«
»Du lügst«, schrie Flora. »Und du versuchst schon von Anfang an, uns auseinanderzubringen. Du hast mir doch auch den Zettel unter die Bank gelegt, dass Carina Gerüchte über mich verbreiten würde, oder?«
»Ich konnte ja nicht ahnen, dass du so dumm bist und dermaßen mit Blindheit geschlagen!«
»Weißt du, was ich glaube«, unterbrach Flora sie. »Vielleicht steckst du hinter all dem Scheiß, der in den letzten Wochen passiert ist – und wenn du mich nicht bald in Ruhe lässt, dann gehe ich zur Polizei und zeige dich an!« Und damit drehte sie sich um und rannte einfach los.
Sie rannte, bis sie wieder am Schulparkplatz ankam, völlig außer Atem und doch mit dem Gefühl, den Kopf gereinigt zu haben. Keuchend schloss sie ihr Fahrrad auf und fuhr los. Sie musste zu Carina. Sie musste mit ihrer Freundin über all dies reden. Sie mussten überlegen, warum Leonie diesen Unsinn verbreitete.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Carina tatsächlich die Tür öffnete. Sie sah blass und elend aus, schien noch dünner zu sein als sonst.
»Was ist?«, fragte sie schläfrig und machte keine Anstalten, Flora die Tür weiter aufzumachen.
»Ich muss mit dir reden«, sagte Flora und bemühte sich, ruhig zu klingen.
Carina zuckte mit den Schultern, ließ die Tür dann los und ging zurück in die Wohnung. Flora nahm es als Zeichen, dass sie eintreten konnte.
In der Wohnung roch es muffig, es war dämmrig, denn die Rollos schienen in allen Zimmern geschlossen zu sein.
»Wie geht es dir?«, fragte Flora und schon meldete sich wieder das schlechte Gewissen: Du hättest schon viel früher nach Carina schauen sollen…
»Passt. Hab nur nicht geschlafen heute Nacht«, sagte Carina und ließ sich an einen kleinen, schmalen Küchentisch sinken, auf dem schmutziges Geschirr und ein paar Lebensmittelreste standen.
»Was ist mit deiner Mutter?«
»Im Moment darf keiner zu ihr.« Carina schien nicht bereit, mehr als die paar Worte zu sprechen, die als Antwort auf Floras Fragen ausreichen mussten.
»Warum warst du nicht in der Schule?«
»Ey, ich hab keinen Bock auf ein Verhör«, stellte sie ruppig klar. »Ging halt heute nicht. Morgen wieder. Oder übermorgen.«
»Ach, Carina…« Flora war ratlos. So abweisend hatte sie ihre Freundin noch nie erlebt. Es musste ihr furchtbar schlecht gehen.
»Soll ich uns einen Kaffee kochen?«
Carina zuckte mit den Schultern.
»Was ändert das?« Flora spürte, wie sie innerlich in Deckung ging. Sie war gekommen, um sich ihrer Freundschaft mit Carina zu versichern, aber stattdessen trat Carina diese Freundschaft gerade mit Füßen. Oder war es vielleicht genau das, was eine Freundschaft ausmachte? Dass man sich auch mal schlecht benehmen konnte, ohne dass der andere gleich sauer war? Carina hatte Floras Schweigen, ihre Trauer, ihr Unglück hingenommen, ohne sich zu beklagen.
Flora angelte sich das kleine italienische Espressokännchen aus der Spüle und setzte einen frischen Kaffee auf. Während das Wasser heiß wurde, räumte sie das dreckige Geschirr in den Geschirrspüler, zog das Rollo hoch und öffnete das Fenster. Carina ließ einen Löffelstiel wieder und wieder auf die Tischplatte aufstoßen und beobachtete das Spiel, als hätte sie nie Interessanteres gesehen. Erst als Flora eine kleine Tasse duftenden Espresso vor ihr abstellte, sah sie auf.
Flora pustete über ihre Tasse und nahm zwei Schlucke, bevor sie redete. »Mich hat gerade Leonie in die Mangel genommen«, fing sie an. »Sie hat behauptet, du wärst eine böse Freundinnen-Vernichterin. Du würdest mir so übel mitspielen, weil du mich zerstören wolltest. Hast du schon mal so einen Scheiß gehört?«
Carina rührte unentwegt in ihrem Kaffee, den sie mit gut drei Löffeln Zucker gesüßt hatte, doch plötzlich warf sie den Kopf zurück und lachte an die Decke.
Dann sah sie Flora an und ihre Miene war undurchschaubar. »Ich danke dir, dass du mir das gesagt hast.« Ihre Stimme klang völlig normal, emotionslos. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft schon Leute diesen
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