Rachekuss
vorbeizufahren. Erst wollte sie mit Carina reden. Und vielleicht mit Yannik.
Statt einer dieser beiden, tauchte nun plötzlich Edinger vor ihr auf.
»Guten Morgen«, sagte er freundlich. »Schön, dass Sie wieder da sind. Ich wollte Sie nur wissen lassen, äh…« Er zögerte, sichtlich unsicher, wie er sich ausdrücken sollte.
»Ich meine, Sie müssen keine Angst haben. Hier wird Ihnen niemand nachstellen, wegen der Sache mit den Katzen.« Sie nickte und versuchte, dankbar zu lächeln.
»Meine Kollegen und ich haben mit den Schülern über alles gesprochen. Wir haben ihnen klargemacht, dass so etwas nicht einfach ein übler Scherz ist. Und vor allem – dass Sie es nicht sind. Also, das Mädchen auf dem Video.«
»Danke«, sagte Flora und merkte selbst, wie genervt sie klang.
»Hat die Polizei Ihnen denn schon weiterhelfen können? Weiß man, wer da dahintersteckt?«
»Nein, die sagen, das sei sehr schwer rauszufinden. Es ist aufwendig, an die Daten zu kommen.« Zu jedem ihrer Worte nickte er verständnisvoll.
»Sie wissen ja«, beteuerte er dann. »Kommen Sie zu mir, wenn etwas ist, versprochen?« Flora nickte und dann entdeckte sie Yannik hinter dem Lehrer.
»Entschuldigung«, sagte sie und ließ ihn einfach stehen.
Es kam ihr seltsam vor, Yannik vor aller Augen zu küssen. Aber sie musste es einfach tun. Seine Lippen waren ihre Batterie, die sie mit Energie für den Tag versorgte.
»Müde?«, flüsterte er in ihr Ohr.
»Gar nicht«, antwortete sie lächelnd und küsste ihn gleich noch einmal.
Dann stand Carina neben ihnen. Verschlafen und blass sah sie aus. Und Flora hatte gleich wieder ein schlechtes Gewissen. Diese schreckliche Mutter fiel ihr ein und wie sie selbst Carina verdächtigt hatte. Schnell machte sie sich von Yannik los und umarmte ihre Freundin. Carina erwiderte ihre Umarmung kaum.
»Noch sauer?«, fragte Flora vorsichtig. Carina schüttelte kaum merklich den Kopf. »Alles klar?«, bohrte Flora weiter. »Eins sag ich dir gleich – auch wenn ich jetzt, nun ja, etwas enger mit Yannik… also, du bist und bleibst meine beste Freundin und ich verspreche dir, er wird nicht zwischen uns stehen!«
»Meine Mutter hat heute Nacht versucht, sich das Leben zu nehmen«, sagte Carina und starrte unablässig auf die Wand hinter Floras Kopf.
»Was?« Flora überlief eine Gänsehaut. »Wie das denn?«
»Tabletten, Alkohol, das Übliche. Nur in noch stärkerer Dosis. Ich hab gehört, wie sie rumgewürgt hat, und bin dann doch mal zu ihr. Sonst wäre sie an ihrer eigenen Kotze erstickt.«
Flora drückte Carina fest an sich. »Grauenhaft«, murmelte sie. »Das ist ja grauenhaft.«
»Vielleicht wäre ich besser liegen geblieben. Dann hätte sie es jetzt hinter sich.«
»Nein.« Flora packte Carinas Handgelenk, das mal wieder blau-grün schimmerte und zudem von einer tiefen Schnittwunde überlagert war. »So darfst du nicht denken. Sie ist immerhin deine Mutter.«
»Ach ja?« Carina schnaubte verächtlich. Flora strich über Carinas Handgelenk.
»Was war das schon wieder?«
»Hab mich an einer Glasscherbe geschnitten. Meine Mutter hat mit einer Bierflasche nach mir geworfen, als ich heimkam. Hat aber nur den Türrahmen getroffen.« Flora zog hörbar Luft zwischen den Zähnen ein und umarmte Carina. Sie war noch immer steif wie ein Stock.
Der Gong zur ersten Stunde beendete das Gespräch. Deutsch stand auf dem Stundenplan und es war, als spüre die ganze Klasse, dass heute kein Platz für Späße und Geschrei war. Konzentriert und ruhig lief der Unterricht ab. Carina sah die ganze Zeit stumm auf ihr Buch, aber Edinger ließ sowohl sie als auch Flora in Ruhe.
»Wo ist sie jetzt?«, nahm Flora das Gespräch in der Pause wieder auf.
»In der geschlossenen Psychiatrischen«, antwortete Carina. »Gott sei Dank.«
Nach einer Pause setzte sie nach: »Bitte, Flora, lass uns irgendwas Schönes nach der Schule machen, irgendwas ganz Normales, shoppen oder Kaffee trinken oder irgendwas.«
»Klar«, sagte Flora. »Natürlich, das machen wir.«
Sie bummelten durch die Einkaufsstraßen der Altstadt, gingen hier in eine Boutique, sahen dort in das Schaufenster eines Schuhladens und jeder musste denken, sie seien zwei ganz normale junge Frauen beim Shoppen. Nur ihre ernsten Gesichter gaben Anlass zum Zweifel. Carina wirkte, als habe sie Beruhigungsmittel genommen, so starr und unbeweglich war ihr Gesicht.
Sie waren extra bis zum Lorlebergplatz gelaufen, der sonst nicht zu »ihrem« Gebiet gehörte, und
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