Rachekuss
Quatsch über mich verbreitet haben. Und gerade Leonie, die schon immer eine Einzelgängerin war und die es einfach nicht schafft, Freunde zu finden. Außer ihren komischen Gruftis, die allesamt debil sind.« Flora atmete innerlich ganz tief aus. Das war genau die Antwort, die sie hatte hören wollen.
Carina stand auf, kam auf sie zu und umarmte sie fest. »Weißt du«, flüsterte sie, »ich weiß, wie es in Einzelgängerinnen aussieht. Ich war auch lange eine. Weil es bei mir anders zuging als bei andern Kindern. Weil ich keinen Papa vorzeigen konnte und meine Mama abends gearbeitet und morgens ausgeschlafen hat und wir so gut wie kein Familienleben hatten. Ich konnte nie einfach mal so Kinder zu mir einladen, ich wusste nicht, in welchem Zustand meine Mutter gerade sein würde, wenn der Besuch käme. Ich weiß genau, wie Leonie sich fühlt. Aber dass sie versucht, dich gegen mich aufzubringen – so etwas hätte ich niemals getan!«
Sie starrten lange, die Arme umeinandergelegt, auf die Straße vor dem Fenster. Kleine Autos fuhren vorbei mit kleinen Menschen darin, die kleine Leben führten. Die nichts wussten von Unsicherheit und Angst und auch nichts von echter Freundschaft.
»Du musst mal wieder raus hier«, sagte Flora und gab Carina einen Schubs mit der Hüfte. »Hier wird man ja depressiv! Komm zum Training mit heute Abend, Bewegung bringt dich auf andere Gedanken.«
»Ja, Mama«, sagte Carina und schmiegte ihre Arme um Floras Hals. Dann betrachteten sie weiter die Straße, bis Flora sagte: »Ach, übrigens: Ich hab heute Morgen mit diesem Bauarbeiter gesprochen. Der ist aus Angola. Und er hatte so einen Aufnäher von der Bauunternehmung Meyer auf dem Overall. Kennst du den? Arbeitet der für deinen Onkel?« Carina ließ Flora los, setzte sich wieder und trank den letzten Rest ihres Espressos.
»Kann schon sein. Der hat ständig neue Arbeiter, viele aus anderen Ländern. Warum soll da kein Angolaner dabei sein? Aber wenn es der aus dem Café gewesen wäre, hätte ich ihn vielleicht erkannt. Ich glaube nicht, dass das der Gleiche war. Wie ein Angolaner sah der nicht aus.«
»Woher weißt du, wie ein Angolaner aussieht?«, fragte Flora und bereute den misstrauischen Ton in ihrer Stimme.
Carina sah sie skeptisch an. »Ich hab mich früher mal mit einem Angolaner unterhalten, der für meinen Onkel gearbeitet hat. Aber der ist schon lange zurück in seinem Land. Ich hab dir doch erzählt, dass ich mich für das Land interessiert habe. Na ja, vorbei. Ich geh lieber mit dir nach Brasilien.«
Flora lächelte erfreut und setzte sich wieder zu ihr. Eine Zeit lang schwiegen sie. Bis Flora die Worte auf der Zunge liegen spürte, Worte, die sie aussprechen sollte. Die aber nicht hinauswollten, nicht in Carina eindringen sollten. Das wäre zu viel. Aber die Worte wurden scharf und bitter im Mund und Flora musste sie einfach loswerden.
»Leonie behauptet, du wärst in Yannik verliebt.« Da standen sie nun, die Worte. Dick und fett und unübersehbar mitten im Raum. Umgeben von einer Wolke aus Angst und Hoffnung.
Carina warf Flora einen spöttischen Blick zu. »Ich? In Yannik? Ähä. Nein, weißt du, da könnte ich mich auch gleich in den Papst verlieben. Den finde ich attraktiver.«
Flora wusste einen Moment nicht, wie sie reagieren sollte. Aber mit einem Mal blitzte der Schalk aus Carinas Augen, als sei ein Funke übergesprungen und hätte ihrem fröhlichen Ich wieder die Vorherrschaft übergeben. Flora verzog die Lippen vorsichtig zu einem Grinsen. Carina sprang auf und kniete sich vor Flora nieder: »Yannik, ach, Yannik«, rief sie theatralisch. »Erhöre mein Flehen – nimm mich, sonst vernichte ich Flora.« Dann stand sie wieder auf und sah Flora todernst an. »Meinst du so? Was für ein unglaublicher Quatsch!«
Flora lachte nun laut und erleichtert. »Ich konnte mir das auch nicht vorstellen, echt nicht«, sagte sie. »Aber warum erzählt Leonie so einen Schwachsinn?«
Carina stellte die Espressotassen in die Spüle. Dann drehte sie sich zu Flora.
»Weil Leonie gestört ist. Musst dir nur mal ihre Familie anschauen. Lauter so dicke Metzger, die den ganzen Tag Schweinefleisch fressen – davon wird man einfach blöd. Echt jetzt! Die sind seit irgendwie 500 Jahren lauter Schlachter und ich wette, da heiratet immer ein Cousin seine Cousine und die ziehen lauter Inzestbälger groß. Brrrr! Ich geh jetzt mal duschen – wartest du auf mich?«
Nach zwanzig Minuten stand Carina frisch geduscht und geföhnt vor
Weitere Kostenlose Bücher