Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
ohne Furcht vor dem Fragebogen.
Zwar war ich erleichtert, aber in mir wirbelten meine Gefühle immer noch wild durcheinander.
Tiefe Traurigkeit kam in Wellen über mich und verebbte. Inzwischen war ich froh, wenn sich bei dem Gedanken an Luke Wut oder Schmerz einstellten, wenigstens konnte ich diese Gefühle zuordnen.
Der Samstagmorgen fing wie immer mit dem Kochkurs an.
Und natürlich gab es wie immer ein Gerangel um Eamonn und die Lebensmittel – diesmal war es eine Dose Kakaopulver –, das damit endete, dass Eamonn fortgeführt wurde, wie jeden Samstagmorgen.
Insgeheim beobachteten wir Angela und fragten uns – mit gewisser Hoffnung –, ob sie sich ähnlich verhalten würde. Aber Angela war nicht wie Eamonn. Beim letzten Kochkurs hatte sie sich ganz vorbildlich betragen.
Wenn da nicht ihr enormer Leibesumfang gewesen wäre, würde man nie darauf kommen, dass sie Essprobleme hatte, denn man sah sie nie essen. Ich hatte gehört, wie sie zu Misty sagte, sie habe schlimme Probleme mit der Schilddrüse und einen unglaublich langsamen Stoffwechsel. Vielleicht stimmte das.
Entweder das oder sie schloss sich dreimal am Tag im Badezimmer ein und vertilgte den Inhalt eines Supermarkts mittlerer Größe. Entweder, oder. Ich tippte auf die zweite Möglichkeit. Ich war der Ansicht, dass dieser Arsch nur mit viel Mühe und Hingabe in seiner vollen Breite erhalten werden konnte.
Ich war überrascht, dass Misty diesen Punkt nicht erwähnte, aber Misty war sehr nett zu ihr. Sodass ich mich schmollend fragte, warum sie nicht zu mir nett sein konnte. Blöde Schnepfe.
Es dauerte eine Weile, bis Betty alle mit Mehl und Zucker und Rührschüsseln und Sieben und so weiter versorgt hatte.
Clarence hob immer wieder die Hand und sagte: »Frau Lehrerin.«
Darauf sagte Betty jedes Mal: »Nennen Sie mich doch Betty.«
Und Clarence erwiderte darauf: »Ist gut, Frau Lehrerin.«
Und dann kehrte Frieden ein. Alle waren konzentriert bei der Sache, die Braunen Pullover mehlbestäubt, und ich spürte eine gewisse Erregung im Raum. Eine seltsame Harmonie, die meine Haut zum Prickeln brachte. Fast als wären wir ... als wäre das Göttliche gegenwärtig, dachte ich unwillkürlich und war davon selbst überrascht.
Im nächsten Moment war es mir unsäglich peinlich, so einen New-Age-Quatsch gedacht zu haben. Demnächst würde ich noch Die Prophezeiungen von Celestine lesen, wenn ich nicht aufpasste!
Doch es dauerte nicht lange, da hatte ich abermals einen Anflug von Sentimentalität. Als die Männer ihre windschiefen, missgebildeten, angebrannten, innen noch rohen und in sich zusammenstürzenden Kuchengebilde aus dem Ofen holten, stiegen mir beim Anblick ihrer stolzen Gesichter die Tränen in die Augen. Jeder dieser Kuchen war ein kleines Wunder, dachte ich und verdrückte heimlich eine Träne. Diese Männer waren Alkoholiker, und manche hatten schreckliche Dinge getan, aber diese Kuchen hatten sie ganz allein zustande gebracht ...
Dann wand ich mich vor Widerwillen.
Es war mir unfassbar, dass ich solche Gedanken hatte.
Gott sei Dank, dass keiner da ist, der sie auch nur erahnen konnte, sagte ich mir.
Die Samstagabende in Cloisters waren besonders schwierig für mich. Ich empfand es als Demütigung, dass die ganze Welt sich darauf vorbereitete auszugehen. Außer mir. Aber das Schlimmste waren meine quälenden, um Luke kreisenden Gedanken. Am Samstagabend würde er noch am ehesten eine andere Frau kennenlernen. Die Vorstellung machte mich ganz fertig.
Ich vergaß ganz und gar, dass ich wütend auf ihn war. Stattdessen sehnte ich mich schmerzlich nach ihm und verging fast vor Eifersucht und Angst, ihn zu verlieren. Obwohl es ja klar war, dass ich ihn ohnehin schon verloren hatte. Aber wenn er eine andere Frau kennenlernte, dann hatte ich ihn richtig verloren.
Ich versuchte, ihn bei dem samstäglichen Spieleabend aus meinen Gedanken zu verdrängen. Ich hatte in der Woche davor mitgemacht, aber nur halbherzig. Es war mir peinlich gewesen, weil ich immer daran denken musste, was wohl Helenka und andere exzentrische New Yorker sagen würden, wenn sie mich so sehen könnten. Immer wieder verdrehte ich die Augen und rümpfte die Nase. Falls Helenka übersinnliche Fähigkeiten hatte, sollte sie sehen, dass ich nur mitmachte, weil mir nichts anderes übrigblieb, und dass es mir keinesfalls Spaß machte. Spiele! sagte ich mit jeder Faser meines Körpers. Grauenhaft!
Aber an diesem Samstag war ich erstaunt, welchen Spaß es machte.
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