Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
Zunächst teilten wir uns in Gruppen auf und spielten »Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?« Wir rannten quer durch den ungeheizten Aufenthaltsraum und versuchten, die Barriere, die die andere Gruppe mit verschränkten Armen bildete, zu durchbrechen. Es machte einen riesigen Spaß!
Dann kam jemand mit einem Springseil.
Während des Seilspringens war mir ein paar Minuten lang ganz elend, weil alle anderen aufgerufen wurden, nur ich nicht. Genauso war es mir auch in meiner Kindheit immer ergangen, und ich war sauer und böse und fühlte mich ausgeschlossen.
Ich schlich mich fort und ließ mich auf einen Stuhl bei der Wand fallen. Ich mache nicht mehr mit, dachte ich und schmollte, auch wenn mich jemand aufruft.
»Macht es dir Spaß?« Chris tauchte neben mir auf.
Die Haare auf meinen Armen richteten sich auf. Mein Gott, war ich scharf auf ihn. Diese Augen, diese Oberschenkel ... Irgendwann, dachte ich sehnsüchtig. Vielleicht würden er und ich eines Tages zusammen in New York sein, ernstlich verliebt ... Dann wurde Misty aufgerufen, und mein Neid überschattete alles andere.
»Mir wird schlecht, wenn ich denen zusehe«, sagte ich bitter. »Wirklich wahr. So an die Kindheit erinnert zu werden.«
»Deswegen spielen wir aber nicht.« Chris klang überrascht. »Sondern weil es uns Spaß macht und wir uns ein bisschen abreagieren können. Aber warum wirst du nicht gern an deine Kindheit erinnert?«
Ich schwieg.
Chris sah mich besorgt an.
In der Ferne hörte ich, wie Misty, die wie eine zierliche, kleine Elfe sprang, in einem Singsang sagte: »Und ich rufe Chri-is ...«
»Wenn es so schrecklich ist, daran erinnert zu werden, solltest du in der Gruppe darüber sprechen«, sagte Chris. Dann rief er aus: »Oje, ich bin dran!« und sprang neben Misty ins Seil.
John Joe und Nancy, die tablettensüchtige Hausfrau, schlugen das Seil. Obwohl sich auch die anderen nicht besonders geschickt anstellten, waren Nancy und John Joe ganz besonders unkoordiniert in ihren Bewegungen. Nancy konnte kaum das Gleichgewicht halten.
Ich sah zu, wie Chris sprang. Unbeholfen und ungelenk, aber sehr süß. Sein Gesicht war ganz konzentriert in dem Bemühen, sich nicht zu verheddern.
Ich saß auf meinem Stuhl und fühlte mich schlecht, während die anderen das Seilspringlied sangen, und dann hörte ich Chris, der sang: »Und ich rufe Rache-el.«
Voller Freude sprang ich auf. Wie gerne wurde ich aufgerufen, und nie rief mich jemand auf. Nie. Immer wurden die größeren gerufen.
Oder die kleineren.
Ich sprang ins Seil und hüpfte im Gleichschritt mit Chris und freute mich, weil ich gerufen worden war. Dann verfingen sich Chris’ hübsche Schlangenlederstiefel im Seil, ich stolperte, und wir beide purzelten übereinander und fielen zu Boden. Eine köstliche Sekunde lang lag ich neben Chris auf dem Fußboden, dann kriegte John Joe einen kleinen Anfall und sagte, er habe die Nase voll vom Seilschlagen. In einem spontanen Anflug von Großherzigkeit schlug ich plötzlich das Seil, Nancy mit dem glasigen Blick am anderen Ende. Sie schwebte in der Welt der Beruhigungsmittel, und das machte mir Angst.
Nachdem John Joe sich selbst und praktisch alle anderen zu Fall gebracht hatte, war es Zeit für die »Reise nach Jerusalem«. Am Anfang wollte ich nicht zu grob sein und die anderen von den Stühlen schubsen – außer Misty natürlich –, aber als ich begriff, dass es genau darum ging, so grob und rücksichtslos wie möglich zu sein, fing es an, mir richtig Spaß zu machen. Es war ein Lachen und Kreischen, ein Drängeln und Schubsen, und ich hatte das Gefühl, dass ich mich noch nie so gut amüsiert hatte. Ohne Drogen, meine ich.
Erst als es Zeit war, zu Bett zu gehen, und ich wieder an Luke in New York dachte, der wahrscheinlich jetzt gerade ausging, verpuffte meine gute Laune.
Am Sonntagmorgen fragte mich jeder Mann in Cloisters – und leider gehörte Chris auch dazu –, ob meine Schwester heute zu Besuch käme.
»Ich weiß es nicht«, war meine Antwort. Aber zur Besuchszeit erschien Helen zusammen mit Mum und Dad.
Anna war nicht gekommen – leider. Dad redete immer noch mit seiner Oklahoma- Stimme.
Als ich Helen allein sprechen konnte – Mum und Dad hatten ein intensives Gespräch mit Chris’ Eltern angefangen, und ich wollte lieber nicht wissen, worüber sie sprachen –, gab ich ihr den Brief für Anna, in dem ich geschrieben hatte,Anna möge mich doch bitte mit einem Drogenpaket besuchen.
»Kannst du den bitte Anna geben?«,
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