Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
gehen.
»Ich?«, sagte Helen. »Briefmarken? Seh ich aus, als wäre ich verheiratet?«
»Was meinst du damit?«
»Nur verheiratete Leute haben Briefmarken dabei, das weiß doch jeder.«
»Ist auch egal«, sagte ich. Gerade war mir eingefallen – wie hatte ich das nur vergessen können? –, dass die drei Wochen, die ich laut Vertrag verpflichtet war zu bleiben, in fünfTagen um waren. Dann konnte ich gehen. Auf gar keinen Fall würde ich freiwillig die vollen zwei Monate bleiben wie die anderen hier. Ich wäre weg wie ein geölter Blitz. Und dann konnte ich so viele Drogen nehmen, wie ich wollte.
46
N achdem die Besucher gegangen waren, überkam mich plötzlich das Sonntagnachmittags-Erstickungsgefühl. Ein Gefühl der Leere und Unzufriedenheit und die Empfindung, dass ich platzen würde, wenn nicht bald etwas passierte.
Rastlos streifte ich vom Speisesaal zum Aufenthaltsraum in mein Schlafzimmer und wieder zurück und konnte nirgendwo zur Ruhe kommen. Ich fühlte mich wie ein Tier im Käfig.
Ich sehnte mich danach, wieder draußen zu sein, wo ich mich volldröhnen und in Stimmung bringen konnte. Wo ich meine Gefühle aus dem grauen, verhangenen Schlund der Depression in den klaren, blauen Himmel der Glückseligkeit katapultieren konnte. Aber in Cloisters war nichts, was mich in andere Sphären befördern konnte.
Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass dies mein letzter Sonntag hinter Gittern war. Dass ich in weniger als einer Woche diese Gefühle nicht mehr haben würde.
Aber mit einem Aufbranden unverdünnter Angst erkannte ich, dass ich früher eine ähnliche Ruhelosigkeit und Leere erlebt hatte. Oft sogar. Normalerweise überfiel mich diese Stimmung sonntagnachmittags so gegen vier. Heute war sie etwas spät dran, vermutlich richtete sie sich immer noch nach der New Yorker Zeit.
Vielleicht würde sie mir nachkommen, wenn ich nicht mehr in Cloisters war?
Vielleicht, musste ich zugeben, aber wenigstens konnte ich dann etwas dagegen tun.
Die anderen Insassen gingen mir mit ihrem Gezeter auf die Nerven. Mike hatte scheußliche Laune, er schlich umher und erinnerte mehr als sonst an einen Stier.
Er wollte keinem den Grund für seine miese Stimmung erklären, aber Clarence erzählte mir, dass Mikes vorlauter Sohn Willy seinen Vater mit den Worten begrüßt habe: »Da ist ja mein Alki-Paps.«
»Wie bitte???«, habe Mike gefragt.
»Alki-Paps«, habe Willy fröhlich geantwortet. »Du bist mein Vater, also bist du mein Paps, und du bist ein Alki. Und wenn man die zwei zusammen sagt, kommt Alki-Paps dabei raus.«
»Er hätte dem Jungen fast sämtliche Knochen gebrochen«, sagte Clarence viel zu nah an meinem Ohr.
Andererseits ärgerte ich mich über Vincent, weil er ausgesprochen gute Laune hatte. Er war geradezu ausgelassen vor Freude, weil seine Frau ihm das Babyboomer Trivial Pursuit mitgebracht hatte. Er hielt Stalin die rote Schachtel unter die Nase. »Jetzt werden wir ja mal sehen, wer die ganzen Fragen beantworten kann, ja, das werden wir!«, sagte er triumphierend. »Diesmal hattest du nämlich keine Möglichkeit, die Antworten auswendig zu lernen.«
Stalin brach in Tränen aus. Er hatte gehofft, dass Rita kommen und ihm sagen würde, dass sie die Scheidungsklage zurückgezogen hatte, aber sie war nicht aufgetaucht.
»Lass ihn in Ruhe!«, fuhr Neil Vincent an. Als Neil der Wahrheit ins Auge geblickt und erkannt hatte, dass er Alkoholiker war, hatte er ein, zwei Tage geheult und dann Vincent in der Rolle des Wüterichs abgelöst. Er wütete gegen sich selbst, weil er Alkoholiker war, aber er wütete auch gegen alle anderen. Josephine sagte, dass sein Zorn die normale Reaktion sei, weil keiner gern Alkoholiker sei, aber dass er sich bald damit abfinden werde. Wir warteten sehnlichst auf diesen Moment.
»Der arme Kerl hat Ärger mit seiner Frau!«, brüllte Neil Vincent an. »Jetzt quäl du ihn nicht auch noch.«
»Entschuldigung.« Vincent sah ganz betreten aus. »Das wollte ich nicht, es war nur ein Spaß.«
»Du bist so aggressiv, aber wie!«, brüllte Neil wieder.
»Ich weiß«, sagte Vincent betrübt. »Aber ich gebe mir doch Mühe ...«
»Das reicht aber nicht!« Neil schlug mit der Faust auf den Tisch.
Die anderen bewegten sich schleunigst in Richtung Ausgang.
»Tut mir leid«, murmelte Vincent.
Alle blieben stehen und kamen dann zurück.
Es wurde ein bisschen ruhiger, bis Barry, das Kind, völlig aufgelöst in den Speisesaal gerannt kam. Offenbar gab es oben größere Tumulte,
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