Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
verhalten.«
»Vermutlich«, murmelte ich.
»Sie kommen wieder zu sich, fühlen sich unglücklich und haben Schuldgefühle, Ihr Selbsthass und Ihre Angst vor der Wirklichkeit, die Sie selbst geschaffen haben, sind noch größer als zuvor. Und wie gehen Sie damit um? Indem Sie mehr Drogen nehmen. Daraus entsteht mehr schlechtes Verhalten, mehr Selbsthass, ein noch größeres Durcheinander, und natürlich noch mehr Drogenkonsum. Eine nach unten gerichtete Spirale. Aber Sie hätten jederzeit aufhören können«, sagte sie und erriet meine Gedanken, dass dies alles so unvermeidbar, so zwangsläufig war. »Sie hätten Ihr Leben unter Kontrolle bringen können, indem Sie sich beispielsweise bei den Menschen entschuldigten, die Sie mit Ihrem schlechten Verhalten gekränkt haben. Dann hätten Sie aufgehört, weiter die Dinge zu tun, die Ihrem Selbsthass Nahrung gaben. Und hätten Sie sich gezwungen, ein klein bisschen von der Realität durchzustehen, hätten Sie erkannt, dass Sie davor nicht wegzulaufen brauchen. Sie können den Prozess zu jedem Zeitpunkt aufhalten und umkehren. Sie tun es jetzt. Hören Sie auf, nach dem ›Warum?‹ zu suchen, Rachel«, schloss sie. »Das brauchen Sie nicht.«
Ich war also süchtig.
Na toll!
Es brachte mir keine Freude. Keine Erleichterung. Es war mindestens ebenso schrecklich, als hätte ich herausgefunden, dass ich eine Massenmörderin war.
Ich verbrachte das Wochenende und den größten Teil der nächsten Woche in einem Schockzustand. Ich war kaum in der Lage, mich mit den anderen zu unterhalten, weil in meinem Kopf die Worte dröhnten: Du bist süchtig, na na na naa naaah! Du bist süchtig .
Es war das Letzte, was ich mir wünschte, es war das schlimmste Unglück, was mir zustoßen konnte.
Ich wusste, weil ich die anderen in meiner Gruppe beobachtet hatte – besonders Neil, den ich von Anfang an mitbekommen hatte –, dass sie durch ganz bestimmte Phasen gingen, bis sie ihre Sucht annahmen. Erst wurde sie geleugnet, dann kam die entsetzliche Erkenntnis, gefolgt von brodelndem Zorn und schließlich, wenn sie Glück hatten, konnten sie es annehmen.
Ich hatte geleugnet und die entsetzliche Erkenntnis gewonnen, aber als der pure, giftige Zorn über mich kam, war ich nicht darauf vorbereitet. Josephine begegnete dem natürlich mit der Haltung: »Hallo, Mr. Wüterich, wir hatten Sie schon erwartet«, als ich in der Gruppensitzung loslegte. Ich war so außer mir vor Wut darüber, dass ich süchtig war, dass ich sogar für kurze Zeit meinen Zorn gegen Luke vergaß.
»Ich bin zu jung, um süchtig zu sein!« schrie ich Josephine an. »Warum passiert mir das und keinem von den anderen, die ich kenne?«
»Warum nicht?«, gab Josephine die Frage gelassen zurück.
»Aber, aber, Scheiße ...« brodelte es aus mir wie wahnsinnig.
»Warum kommen manche Menschen blind zur Welt? Warum sind manche Menschen verkrüppelt?«, fragte sie. »Es ist alles eine Frage des Zufalls. Und Sie sind mit einem Hang zu Suchtverhalten auf die Welt gekommen. Na und? Es könnte viel schlimmer sein.«
»Es könnte überhaupt nicht schlimmer sein!«, brüllte ich und weinte Zornestränen.
»Worin besteht das Problem?«, fragte sie so sanft, dass es einen auf die Palme bringen konnte. »Dass Sie keine Drogen mehr benutzen dürfen? Das ist ja schließlich kein Grundbedürfnis. Millionen von Menschen nehmen nie Drogen und führen ein glückliches, erfülltes Leben ...«
»Heißt das, ich kann nie wieder etwas nehmen?«, fragte ich.
»Das ist richtig«, bestätigte sie. »Sie sollten inzwischen wissen, dass Sie nicht aufhören können, wenn Sie einmal angefangen haben. Sie haben so oft Narkotika genommen, dass das chemische Gleichgewicht in Ihrem Gehirn gestört ist. Wenn Sie sich Narkotika zuführen, reagiert Ihr Gehirn mit Depressionen. Das führt zu einem Bedürfnis nach mehr Drogen, dadurch wird die Depression verstärkt, Sie nehmen mehr Drogen und so weiter. Sie sind physisch und psychisch abhängig. Und die physische Abhängigkeit ist irreversibel«, ergänzte sie beiläufig.
»Das glaube ich Ihnen nicht«, sagte ich entgeistert.
Eine neue, überaus heftige Welle der Wut schwappte über mich. Ich erinnerte mich, dass Clarence vor seiner Entlassung gesagt wurde, er dürfe nie wieder Alkohol trinken. Das hatte mir eingeleuchtet. Aber da ging es um ihn . Ich war anders. Ich hatte nur zugegeben, dass ich süchtig war, weil ich dachte, man könnte mich heilen.
»Sie können geheilt werden«, sagte Josephine,
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