Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
erkannte widerstrebend, dass dies die Plätze waren, wo sie schon lange hätten sein sollen.
Mein Leben war eine Katastrophe.
Ich hatte nichts. Keinen materiellen Besitz, es sei denn, man zählt die Schulden. Vierzehn Paar Schuhe war alles, was ich nach einem Leben ungezügelter Geldverschwendung vorzuweisen hatte. Ich hatte keine Freunde mehr. Ich hatte keine Arbeit, ich hatte keine Qualifikationen. Ich hatte in meinem Leben nichts erreicht. Ich hatte keinen Ehemann, keinen Freund (selbst in meiner Verzweiflung weigerte ich mich, das Wort »Partner« zu benutzen. Was bin ich denn? Etwa ein Cowboy?). Und was mich am meisten verletzte und verwirrte, war die Tatsache, dass Luke, der Mann, der mir wirklich zugetan schien, mich nie geliebt hatte.
Am Tag darauf, am Freitag, wandte sich Josephine – mit perfektem Zeitgefühl – in der Gruppensitzung mir zu. Sie wusste, dass in mir etwas rumorte, alle wussten das.
»Rachel«, fing sie an, »Sie sind heute fünf Wochen hier. Haben Sie in der Zeit irgendwelche interessanten Einsichten gewonnen? Erkennen Sie inzwischen, dass Sie süchtig sind?«
Ich konnte kaum antworten, weil ich mich in einem Schockzustand befand, schon seit dem Abend zuvor. Ich war an einem seltsamen, unwirklichen Ort gefangen, wo ich erkannt hatte, dass ich süchtig war, aber manchmal fand ich die Erkenntnis so schmerzhaft, dass ich wieder dazu überging, es nicht zu glauben.
Ich konnte nicht akzeptieren, dass ich trotz aller Abwehrmechanismen, die ich seit meiner Ankunft in Cloisters aktiviert hatte, an dem gleichen Punkt angelangt war wie die anderen Insassen auch. Wie konnte das geschehen?
Die Stimmung, die entsteht, wenn der Diktator eines Landes im Begriff ist, gestürzt zu werden, ist überall zu spüren. Doch selbst dann, wenn die Rebellen schon vor den Toren stehen, glaubt keiner, dass der Niedergang des unangreifbar scheinenden Tyrannen sich abzeichnet.
Das Ende ist nah , sagte ich mir.
Doch im selben Moment fragte eine andere Stimme: Was? Meinst du, wirklich nah?
»Sehen Sie sich das doch mal an«, sagte Josephine und reichte mir ein Blatt Papier. »Lesen Sie es uns vor.«
Ich sah auf das Blatt, aber die Schrift war so schief und krumm, dass ich kaum etwas lesen konnte. Ab und zu ein Wort – »Leben«, »Abgrund« –, mehr war nicht zu entziffern.
»Was ist das denn?«, fragte ich entgeistert. »Es sieht aus, als wäre es von einem Kind.«
Ich mühte mich ab, bis ich eine Zeile lesen konnte: »Ich mag nicht mehr.« Das Blut erstarrte mir in den Adern, als ich begriff, dass ich diejenige war, die dieses unzusammenhängende Zeug verfasst hatte. Ich erinnerte mich vage, dass »Ich mag nicht mehr« der Titel eines Gedichts über eine Ladendiebin sein sollte, die mit dem Stehlen aufhören wollte. Ich war entsetzt. Mit etwas konfrontiert zu werden, das ich gemacht hatte, als ich völlig zu war, schockierte mich zutiefst. Ich konnte nicht aufhören, auf das spinnenbeinartige Gekritzel zu starren. Das sieht überhaupt nicht aus wie meine Schrift . Ich musste unfähig gewesen sein, einen Stift zu halten.
»Jetzt verstehen Sie vielleicht, warum Brigit dachte, es sei ein Abschiedsbrief«, sagte Josephine.
»Ich wollte mich nicht umbringen«, stammelte ich.
»Das glaube ich Ihnen«, sagte Josephine. »Trotzdem wäre es Ihnen beinahe gelungen. – Macht einem ganz schön angst, nicht wahr?« Sie lächelte und zwang mich dazu, das Blatt im Raum herumzureichen.
In der Gruppensitzung am Nachmittag machte ich einen letzten Versuch, die Erkenntnis abzuwehren, dass ich süchtig war.
»Es ist doch nichts Schlimmes passiert, was mich zur Sucht getrieben hätte«, sagte ich. Und gab mich der Hoffnung hin.
»Ein großer Fehler, den Süchtige häufig begehen«, gab sie blitzschnell zurück, »ist der, dass sie nach einer Begründung suchen. Sie fordern ein Kindheitstrauma, eine zerrüttete Kindheit. Aus meiner Sicht ist der Hauptgrund, warum Menschen Drogen nehmen, der, dass sie die Realität und sich selbst hassen. Dass Sie sich selbst hassen, wissen wir bereits. Wir haben ausführlich über Ihr geringes Selbstwertgefühl gesprochen. Und der Zustand, in dem Sie sich befanden, als Sie dies hier schrieben, zeigt deutlich, dass Sie die Wirklichkeit nicht ertragen konnten.«
Ich wusste nichts zu erwidern. Ich wollte nicht, dass die Lösung so einfach war.
»Wenn wir diese Haltung also voraussetzen«, sagte sie forsch, »ist das der Grund, warum Sie Drogen nehmen und sich unangemessen
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