Rachel
hervorlugte.
»Wer bist du?«, fragte das Kind herausfordernd.
Der Junge, den Rachel sah, musste neun, höchstens zehn Jahre alt sein. Er hatte weizenblonde Haare, die ihm ins Gesicht fielen, er ging barfuß und seine Kleidung bestand aus Lumpen.
»Ich heiße Rachel English«, erwiderte sie und ließ sich dabei vom Rücken des Pferdes gleiten. Es tat gut, wieder auf den eigenen Beinen zu stehen. Sie war es gewohnt, zu Fuß zu gehen. Zwar war sie eine ganz gute Reiterin, aber sie fühlte sich im Sattel nicht unbedingt wohl. »Und wie heißt du?«
»Du verschwindest besser, bevor mein Pa zurückkommt«, warnte der Junge sie.
Rachel blickte sich in dem kleinen schäbigen Lager um, in dem es kein Anzeichen für die Anwesenheit eines Erwachsenen gab. Nirgends waren Tiere zu sehen, kein Pferd, keine Rinder und nicht einmal Hühner. »Sag mir zuerst deinen Namen und dann reden wir über deinen Vater«, erwiderte sie und machte keine Anstalten, sich wieder auf ihren Klepper zu schwingen, um davon zu reiten.
»Toby«, fauchte der Junge. »Toby Houghton. Bist du nun zufrieden?«
Rachel lächelte nicht, denn sie durchschaute Tobys forsches Auftreten. Er war klein, er hatte Hunger, er war allein - und er hatte Angst.
»Mein Pa kann jeden Tag zurück sein«, fuhr Toby fort. »Oder vielleicht sogar schon in der nächsten Minute.«
Rachel nickte traurig und ließ die Schultern hängen. »Verstehe. Wie lange ist er denn schon weg?«
Toby biss sich auf die Unterlippe, während er über die Antwort nachdachte. Mit seinen blauen Augen, die er leicht zusammengezogen hatte, studierte er Rachel genau.
»Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen, Toby?«, fragte Rachel und bemühte sich dabei, das Mitleid, das sie für den Jungen empfand, weder in ihrer Stimme durchklingen zu lassen noch in ihrem Gesicht zu zeigen.
»Ich habe mir erst gestern ein Eichhörnchen geschossen«, behauptete er. Er war der schmuddeligste Bengel, den Rachel je gesehen hatte, und es war klar, dass er sie gerade belogen hatte. Aber dennoch empfand sie auf Anhieb eine tiefe Zuneigung für ihn, denn sie hatten eine Gemeinsamkeit - sie waren beide im Grunde vollkommen allein auf dieser Welt. Sein Vater hatte ihn einfach in der Wildnis zurückgelassen und seine Mutter war entweder tot oder mit einem anderen Mann durchgebrannt. Der Junge hatte also keine Familie mehr. Auch Rachels Familie existierte im Grunde nicht mehr. Ihre drei Brüder waren durch den Krieg getrennt worden und lebten heute - voneinander entfremdet - in alle Winde verstreut. Und ihre Eltern waren schon lange tot, ausgebrannt von dem Kampf, ihre Farm in den schwarzen Zahlen zu halten.
Rachel wandte sich um, öffnete die Satteltasche, nahm die zweite Hälfte des Sandwichs heraus, das sie in einer Serviette von Miss June eingewickelt hatte, und bot es schweigend dem Jungen an.
Toby widerstand eine ganze Weile der Versuchung, aber dann siegte doch der Hunger über den Stolz. Er stürzte vorwärts, riss ihr das belegte Brot aus der Hand und schlang es so gierig in sich hinein, dass Rachel beinahe die Tränen kamen, die sie jedoch wohlweislich zurückhielt.
»Ich denke, du kommst besser in die Stadt mit mir!«, meinte sie, nachdem der Junge das Sandwich verschlungen hatte und wieder zum Zuhören bereit war. »Natürlich nur, bis dein Pa wieder zurück ist«, fügte sie hastig hinzu, als sie Tobys misstrauischen Gesichtsausdruck sah. Nur Gott wusste, wo sie das Kind unterbringen sollte. Sie konnte ja kaum auf die Gastfreundschaft der McCaffreys zählen, ohne sie zuvor gefragt zu haben - aber sie konnte den Jungen auch nicht einfach hier in der Wildnis sich selbst überlassen.
Vielleicht gelang es ihr, ihn auf der Ranch von Scully und Evangeline Wainwright unterzubringen, wo Toby für Kost und Logis würde arbeiten können. Evangeline hatte ihr doch immer erzählt, dass die Arbeit auf der Ranch kein Ende nahm. Ob Frühjahr, Sommer, Herbst oder Winter, immer gab es etwas zu hin.
Toby schien zwar begierig zu sein, aber gleichzeitig auch bekümmert. »Und wenn mein Pa nun nicht weiß, wohin ich gegangen bin?«, fragte er besorgt.
»Er wird es wissen«, erwiderte Rachel ruhig. Und wenn ich mit ihm fertig bin, wird dieser verantwortungslose Dreckskerl auch noch ein paar andere Sachen wissen, dachte sie, aber sie bezweifelte, dass sie jemals die Chance haben würde, diesem Mr. Houghton die Meinung zu gei-gen, denn sie war überzeugt, dass er auf Nimmerwiedersehen verschwunden war. »Hol deine
Weitere Kostenlose Bücher