Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition)
niemandem vermisst gemeldet worden waren. Beide Eltern waren wohl in Europa oder so. Manchmal finde ich Flaschen, Reste von Joints, Kondome oder Fastfoodverpackungen. Aber nichts Verdächtiges.«
Dafür, dass sie nach außen hin so gelassen wirkte, sprach sie verdächtig laut und schnell.
Milo sagte: »Die Stelle, wo Sie das Opfer gefunden haben, liegt die auf Ihrer Streife?«
»Ja, Sir. Ich rechne immer damit, dass hier mal ein Obdachloser liegt, und Gott bewahre, dass die Anwohner über einen Irren mit flackerndem Blick stolpern, wenn sie ihre Pudel Gassi führen.«
»In letzter Zeit mal über einen Irren gestolpert?«
»Nein, Sir. Es ist schon eine Weile her, dass ich hier welche gefunden habe, und das war dann immer dort oben, bei den Grillplätzen. Die brutzeln gern, freuen sich über was Warmes zu beißen. Aber das ist natürlich riskant – wegen der Brandgefahr und so. Also verwarne ich sie. Bislang ist noch keiner ein zweites Mal aufgetaucht. Ich denke jedoch immer, Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, deshalb schaue ich trotzdem jeden Tag vorbei. Und so habe ich Ihr Opfer gefunden.«
»Gibt es irgendeinen speziellen Irren, den ich mir mal ansehen sollte?«
»Ich glaube nicht, Sir«, sagte Gates. »Diese Typen sind nicht aggressiv, ganz im Gegenteil. Teilnahmslos, einsam, körperlich am Ende.« Sie sah auf die Leiche. »Ich bin kein Spezialist, aber das sieht nach Vorsatz aus. So wie die Fußspuren verwischt wurden. Das ist natürlich nur so ein persönlicher Eindruck von mir.«
»Klingt aber logisch«, sagte Milo. »Danke, dass Sie hier die Stellung gehalten haben.«
»Ich tue nur, was meine Aufgabe ist, Sir. Nachdem die Verstärkung eingetroffen war, bin ich hier stehen geblieben und habe die Kollegen Ruiz und Oliphant das Gelände absuchen lassen. Nur ganz grob. Wir wollten ja nichts kaputt machen. Sie haben nichts gefunden, Sir, und es gibt keinen anderen Weg hinaus als durch das Tor, durch das Sie hereingekommen sind. Ich bin also ziemlich sicher, dass sich hier kein Verdächtiger versteckt.«
»Gute Arbeit.«
»Was meinen Sie denn, Sir, war das ein Sexualdelikt? Die runtergezogene Hose? Vielleicht war das so ein Schwulending, das irgendwie außer Kontrolle geraten ist.«
»Schon möglich.«
»Bei einem Sexualdelikt«, fuhr Gates fort, »müsste man aber doch an den Genitalien etwas erkennen …«
»Es gibt da keine festen Regeln, Officer.«
Gates strich sich eine blonde Strähne hinter das Ohr. »Natürlich, Sir. Ich überlasse Sie jetzt Ihrer Arbeit. Falls Sie sonst nichts mehr haben.«
»Alles gut, Officer. Hoffentlich fängt der Tag morgen schöner für Sie an.«
Gates straffte den Rücken. »Um ehrlich zu sein, Sir, das ist wahrscheinlich kein guter Zeitpunkt, um Sie darauf anzusprechen, aber ich überlege, mich für die Laufbahn als Detective zu bewerben. Würden Sie mir das empfehlen?«
»Sie haben eine gute Beobachtungsgabe, Officer Gates. Probieren Sie es, und viel Glück.«
»Ebenso, Sir. Ich meine, für den Fall.«
Sean Binchy, Moe Reed und drei uniformierte Beamte standen am Eingang und überwachten die Straße zwischen dem Sunset Boulevard und dem windschiefen Tor. Die Pathologin war noch nicht eingetroffen, und so blieb uns nichts anderes übrig, als herumzustehen und durch das Loch in der Hecke zu lugen.
Der Tote war mittleren Alters – eher fünfundfünfzig als fünfundvierzig – und hatte dichtes Haar, das sich silbern um seinen kahlen Oberkopf lockte, so dicht, dass es keinerlei Anzeichen von Fremdeinwirkung verriet.
Im Gegensatz zu seinem Kopf und dem Genick unterhalb des Haaransatzes.
Mit dem Überleben nicht vereinbar.
Er war kein Typ, der einem sofort im Gedächtnis geblieben wäre. Durchschnittlich groß, durchschnittlich gebaut, alles an ihm war Durchschnitt. Gebügelte Baumwollhose, mittelbeige, mit Bügelfalte und Aufschlag. Sauber überall dort, wo kein Blut war. Das Hemd war nussbraun, ein Poloshirt, so zusammengelegt, dass das Logo verdeckt war. Die Sohlen seiner weißen Nikes waren abgelaufen. Ein Läufer oder ambitionierter Spaziergänger? Vor dem Tor stand kein Auto, das diese Annahme bestätigt hätte.
Blaue Socken blitzten auf. Er hatte nicht damit gerechnet, untersucht zu werden.
Auf dem Weg zum Tatort hatte ich angenommen, dass mir das Ganze noch mehr an die Nieren gehen würde, dass es schlimmer wäre als bei Vita Berlins Leiche. Doch das Gegenteil war der Fall: Der Anblick löste eine seltsame, kathartische Ruhe in mir aus, die sich
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