Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition)
nichts.«
Ein langer Monolog. Wahrscheinlich ein ziemlich eindeutiger Fall von kognitiver Dissonanz. Es blieb mir nichts anderes übrig, als zuzuhören.
Cahane fuhr fort: »Sie haben mich in eine schwierige Lage gebracht. Sie kommen zu mir mit nichts als Hypothesen. Okay, Hypothesen gründen sich oft auf logische Überlegungen, doch das Problem ist, dass Sie keinerlei Fakten in der Hand haben. Und dafür soll ich meine Schweigepflicht brechen.«
»Ihre Stellung in V-State verpflichtet Sie nicht unbedingt zur Geheimhaltung«, sagte ich.
Seine Brauen kippten. »Wie meinen Sie das?«
»Normalerweise unterliegt das Verwaltungspersonal nicht den gleichen Regeln wie das medizinische Personal. Falls Sie die betreffende Person behandelt haben, könnte die Sache natürlich anders aussehen.«
Er hob sein Glas, das bereits leer war. »Würden Sie bitte die Flasche holen?«
Ich erfüllte seine Bitte, und er goss sich zwei Fingerbreit ein, die er zur Hälfte trank. Seine Augen waren rastlos geworden. Er schloss sie. Seine Hände zitterten. Dann wurden sie wieder ruhig, und er regte sich nicht mehr.
Ich wartete.
Einen Augenblick lang dachte ich, er wäre eingeschlafen.
Dann schlug er die Augen auf und sah mich traurig an. Ich rechnete fest mit einer Absage.
»Da war ein Junge«, begann er. »Ein Junge voller Neugier.«
30
Emil Cahane goss sich noch einmal einen Zentimeter Bourbon ein. Er betrachtete die Flüssigkeit, als sei sie Fluch und Segen gleichermaßen, machte einen zögerlichen Schluck und kippte dann den Rest hinterher wie ein Trinker.
Sein Gesicht hob sich zur Decke. Seine Augen schlossen sich. Seine Atmung wurde schneller.
»Also gut«, sagte er, blieb aber eine weitere halbe Minute reglos sitzen, ehe er fortfuhr: »Dieses Kind, dieser … ungewöhnliche Junge war aus einem anderen Staat zu uns gekommen. Warum, spielt hier keine Rolle. Niemand dort wusste, wie man mit ihm umgehen sollte, und wir galten als eine der besten Einrichtungen überhaupt. Er kam in einer hellgrünen Limousine – es war ein Ford – in Begleitung zweier State Troopers. Sie wirkten riesig im Vergleich zu ihm. Ich versuchte, mit ihm ins Gespräch zu kommen, aber er redete nicht. Ich wies ihn in die Station G ein. An die erinnern Sie sich vielleicht noch.«
Ich hatte den größten Teil meines Praktikums dort verbracht. »Eine offene Station, anders als die Spezialstation.«
»In der Spezialstation waren keine Jugendlichen«, sagte Cahane. »Ich fand es barbarisch, ein Kind dieses Alters zu den Verbrechern zu stecken. Wir reden hier von Mördern, Vergewaltigern, Nekrophilen, Kannibalen. Von Psychotikern, die für den Strafvollzug als zu gestört erachtet worden waren und von der Außenwelt zu ihrem und unserem Wohl gleichermaßen abgeschirmt wurden.« Er massierte sein leeres Glas. »Das war doch ein Kind .«
»Wie alt war er?«
Er rutschte auf seinem Sessel. »Jung.«
»Vorpubertär?«
»Elf«, sagte er. »Sie sehen, wir hatten es hier mit ganz besonderen Umständen zu tun. Er hatte sein eigenes Zimmer auf der G-Station, wo eine therapiebetonte und nicht gefängnisartige Atmosphäre herrschte. Er nutzte unsere Angebote und machte keinerlei Probleme.«
Ich sagte: »Sein Verbrechen hätte die Spezialstation gerechtfertigt, doch durch sein Alter war die Sache komplizierter.«
Er warf mir einen scharfen Blick zu. »Sie versuchen, mir Einzelheiten zu entlocken, die ich nicht unbedingt preisgeben will.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Dr. Cahane, dass Sie sich überhaupt Zeit für mich genommen haben, aber ohne Einzelheiten …«
»Wenn meine Leistung nicht Ihren Vorstellungen entspricht, dürfen Sie jederzeit gerne durch diese Tür dort gehen.«
Ich blieb sitzen.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er. »Das Ganze macht mir ziemlich zu schaffen.«
»Das verstehe ich.«
»Bei allem nötigen Respekt, Dr. Delaware, Sie verstehen gar nichts. Sie nehmen an, ich ziere mich aufgrund irgendwelcher medizinrechtlichen Beschränkungen, aber das ist es nicht.«
Er schenkte sich noch mehr Bourbon ein, den er sofort inhalierte, und versuchte, sein weißes Haar glattzudrücken, wobei er die langen, widerspenstigen Strähnen nur noch mehr zerzauste. Seine Augen schimmerten rötlich. Seine Lippen bebten. Er sah aus wie ein tobsüchtiger Greis.
»Ich bin zu alt, um mich noch um die Justiz zu scheren. Meine Bedenken sind rein egoistischer Natur: Ich schütze meinen greisen Arsch.«
»Sie glauben, Sie haben es vermasselt.«
»Ich glaube das
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