Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition)
nicht, Dr. Delaware. Ich weiß es.«
»Bei solchen Patienten kann man oft unmöglich wissen …«
Ein Wink seiner Hand ließ mich verstummen. »Danke, dass Sie versuchen, Mitgefühl zu zeigen, aber Sie haben keine Ahnung. Diese Klinik war wie eine Stadt. Der Leiter war ein nichtsnutziges Arschloch, seinen Job machte im Grunde ich. Bei mir lag die Verantwortung.«
Tränen füllten seine Augen.
Ich sagte: »Trotzdem …«
»Bitte. Stopp.« Leise Stimme. Freundlicher Blick. »Selbst wenn Sie es wirklich ernst meinen mit ihren Sympathiebekundungen und mich damit nicht nur weichklopfen wollen, können Sie das sein lassen. Ich kann das nämlich nicht ausstehen.«
Ich sagte: »Reden wir über den Jungen. Was hat er mit seinen elf Jahren getan, womit man in seinem Heimatstaat nicht umgehen konnte?«
»Er war elf«, wiederholte er, »und durch und durch Kind. Ein kleiner, weicher, vorpubertärer Junge mit leisem Stimmchen und weichen kleinen Händchen und sanftem Unschuldsblick. Ich hielt seine Hand auf dem Weg zu seinem Zimmer, das sein neues Zuhause sein würde. Er klammerte sich voller Angst an mir fest. Schweißnass. ›Wann darf ich wieder nach Hause?‹ Ich hatte keine tröstliche Antwort für ihn, aber ich lüge nie, und so tat ich, was wir Hirnforschertypen immer tun, wenn wir nicht wissen, was wir tun sollen: Ich flüchtete mich in freundliche Beruhigungen – er werde sich wohlfühlen, wir würden uns gut um ihn kümmern. Dann wechselte ich die Taktik und löcherte ihn mit Fragen, damit er nicht anfing, mir welche zu stellen. Was er gerne esse, was ihm am meisten Spaß mache. Er verstummte und sackte in sich zusammen, als hätte er kapituliert. Trotzdem marschierte er tapfer weiter wie ein kleiner Soldat, setzte sich auf sein Bett, nahm eines der Bücher, die wir bereitgelegt hatten, und begann zu lesen. Ich blieb noch eine Weile bei ihm, doch er ignorierte mich. Schließlich fragte ich ihn, ob er noch irgendetwas brauche. Er sah mich an, lächelte und sagte: ›Nein, danke, Sir, ich brauche nichts.‹«
Cahane fuhr zusammen. »Danach hab ich den Schwanz eingezogen. Ich habe mich regelmäßig nach seinen Fortschritten erkundigt, ohne jedoch direkten Kontakt mit ihm aufzunehmen. Der offizielle Grund dafür war, dass das nicht zu meiner Jobbeschreibung gehörte, denn zu der Zeit war ich hauptsächlich administrativ tätig und sah überhaupt keine Patienten. Die Wahrheit war, dass ich nicht daran erinnert werden wollte, dass ich ihm nichts zu bieten hatte.«
»Er hat Sie aus dem Konzept gebracht.«
Statt zu antworten, sagte er: »Ich hab ihn immer im Auge behalten. Die einhellige Meinung war, dass er sich besser machte als erwartet. Es gab wirklich keinerlei Probleme mit ihm.«
Er legte die Hände auf die Armlehnen seines Sessels und versuchte, aufzustehen, sank dann aber mit mattem Lächeln zurück. Als ich Anstalten machte, ihm zu helfen, sagte er: »Ist schon gut«, und hievte sich auf die Beine. »Toilette.« Mit wackeligen Schritten zockelte er durch die Tür, die seine Regalmeter teilte.
Zehn Minuten verstrichen, ehe die Toilettenspülung rauschte und das Abwasser gurgelte. Als er zurückkam, war sein Gesicht noch röter, und seine Hände zitterten.
Im Setzen sagte er: »Er machte sich also gut. Und dann nicht mehr. Jedenfalls ist mir davon berichtet worden.«
»Von Marlin Quigg.«
»Von einem leitenden Mitarbeiter, der es von einem Praktikanten wusste, den ein Lehrer informiert hatte.« Er seufzte. »Ja, Ihr Mr. Quigg war ein atemloser junger Idealist, der glaubte, seine Berufung gefunden zu haben.«
»Was hat er berichtet?«
»Regression«, sagte Cahane. »Rückfall in alte Verhaltensmuster.«
»Das, was den Jungen zu Ihnen gebracht hat.«
»Grundgütiger«, sagte Cahane und ließ ein unergründliches Lachen hören.
»Neugier auf die menschliche Anatomie?«, fragte ich.
Seine Hände pressten sich aneinander. Er murmelte etwas.
Ich fragte: »Was war sein ursprüngliches Verbrechen?«
Cahane wackelte mit dem erhobenen Finger. Ich rechnete mit einem Tadel. Der Finger bog sich, wand sich zu ihm zurück und verhakte sich in seinem Ohr. Cahane lehnte sich zurück. »Er hat seine Mutter getötet. Beim Fernsehen in den Hinterkopf geschossen. Sie arbeitete auf einer Farm, wo sie Ställe ausmistete, und dort hat sie niemand vermisst, weil Wochenende war. Sie hatte kaum soziale Kontakte, die beiden waren ganz für sich, daheim in Kans … Sie wohnten in einem Trailer am Rande der Farm.«
»Er blieb
Weitere Kostenlose Bücher