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Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition)

Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition)

Titel: Rachenacht: Ein Alex-Delaware-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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auf dem Foto von der Preisverleihung, das weiße Haar länger und zerzauster, und seine Wangen und sein Kinn waren mit mehrere Tage alten weißen Stoppeln beschneit. Er hatte lange Arme und Beine, wenig Oberkörper und trug ein sauberes weißes Hemd, gebügelte marineblaue Hosen und einen fusseligen karierten Morgenmantel. Schwarze, ehemals teure Wildlederpantoffeln steckten über weißen, ehemals billigen Tennissocken. Auf einem runden Mahagonitischchen stand eine dampfende Tasse Tee. Daneben lag ein Buch, einer von Evelyn Waughs bissig-vergnügten Reiseberichten.
    Eine zitternde Hand ausgestreckt, sagte er: »Verzeihen Sie bitte, dass ich nicht aufstehe, aber meine Gelenke spielen heute nicht recht mit.«
    Seine Hand war kühl und wächsern, sein Griff erstaunlich fest, doch er hielt die Berührung gerade so lang aufrecht, wie es unbedingt sein musste, um nicht unhöflich zu wirken. Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht behaupten, dass ich mich an Sie erinnere.«
    »Nicht verwun…«
    »Manchmal werden Bilder ja auch anderswo abgelegt. Möchten Sie was trinken?« Er deutete auf die Küche, die nebenan lag. »Ich habe Mineralwasser und Saft, und der Wasserkessel ist noch heiß. Sogar Bourbon ist da, wenn Sie möchten.«
    »Nein, danke.«
    »Dann nehmen Sie bitte Platz.«
    Wo, war nicht schwer zu erraten. Die einzige Sitzgelegenheit war ein blaues Brokatsofa, das gegenüber Cahanes Sessel an der Wand stand. Genau wie die Hausschuhe sah es teuer, aber abgewetzt aus. Dasselbe galt für den Mahagonitisch und den Perserteppich, der sich über rußgraue Auslegeware wellte. Ungleiche Regale bedeckten jeden Quadratzentimeter Wand, die Türen zu Küche und Schlafzimmer ausgenommen, und waren von oben bis unten voller Bücher, zum Teil in zwei Reihen.
    Ein rascher Blick über die Titel verriet einen unbestimmbaren Lesegeschmack: Geschichte, Geografie, Religion, Fotografie, Physik, Gärtnern, Kochen, alle Arten von Romanen, politische Satire. Zwei Schränke direkt hinter seinem Sessel enthielten Titel aus Psychologie und Psychiatrie. Grundlagenwerke, und nicht viele davon, für seine Verhältnisse.
    Sessel, Tee, Morgenmantel, Pantoffeln und Lesestoff. Er hatte genug Geld, um eine wissenschaftliche Studie zu finanzieren, und beschränkte sich privat doch auf das Notwendige.
    Er betrachtete immer noch mein Gesicht, als versuchte er, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Oder aber er handelte gemäß dem Leitsatz aus dem Studium: Im Zweifel lieber gar nichts tun .
    Fast schon rechnete ich mit einem Rorschach-Test.
    Ich sagte: »Doktor …«
    »Erzählen Sie mir von Marlin Quiggs Ende.«
    Ich beschrieb den Mord, wobei ich gerade so viele Einzelheiten preisgab, wie Milo es noch zugelassen hätte. Ich wollte das Entsetzen vermitteln, ohne zu viel zu enthüllen und ohne die anderen Opfer zu erwähnen, denn das hätte Cahane auf die Idee bringen können, dass das alles doch nichts mit V-State zu tun hatte.
    Er sagte: »Das ist mehr als brutal.«
    »Sagt Ihnen das Fragezeichen irgendetwas, Dr. Cahane?«
    Seine Lippen verschwanden nach innen. Er rieb sich sein stoppeliges Kinn. »Wie wär’s, wenn Sie den Bourbon holen? Bringen Sie zwei Gläser mit.«
    Die Küche war ebenso schlicht eingerichtet wie das Wohnzimmer, sauber, aber schäbig. Die Stumpen jedoch waren aus Kristallglas, der Bourbon ein edler Knob Creek.
    Cahane sagte: »Anderthalb Finger breit für mich. Sie dürfen Ihre Dosis selbst bestimmen.«
    Ich genehmigte mir einen dünnen bernsteinfarbenen Streifen. Wir ließen das Kristall klirren. Keiner sprach einen Toast aus.
    Ich setzte mich und sah zu, wie er sein Glas in zwei Zügen leerte. Wieder rieb er sich das Stoppelkinn. »Sie fragen sich, warum ich so lebe.«
    »Es war nicht das Erste, was mir durch den Kopf ging.«
    »Aber neugierig sind Sie schon.«
    Ich widersprach nicht.
    Er sagte: »Wie die meisten Menschen habe ich den größten Teil meines erwachsenen Lebens damit zugebracht, Dinge anzuhäufen. Nach dem Tod meiner Frau fühlte ich mich zunehmend erdrückt, und so trennte ich mich von vielem. Ich bin weder dumm noch impulsiv, noch leide ich unter Anhedonie. Mein passives Einkommen ist hoch genug, damit ich mir keine Sorgen machen muss. Ehrlich gesagt, war es ein Experiment. Ich wollte sehen, wie es sich anfühlt, wenn man sich von dem ganzen Zierrat trennt, ohne den man glaubt, nicht leben zu können. Manchmal fehlen mir mein großes Haus, meine Autos, meine Kunst. Aber meistens fehlt mir gar

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