Racheopfer
beide sterben würden, sobald er die Tür geöffnet hatte.
»Das kann ich nicht machen«, sagte er.
Er rechnete damit, dass der Verrückte durchdrehte oder einen Tobsuchtsanfall bekam. Doch was Ackerman tat, war noch furchteinflößender.
Die Miene des Killers, eben noch bedrohlich, entspannte sich zu einem Ausdruck zwischen Gelassenheit und Freundlichkeit. Durch die Scheibe blickte er Bert tief in die Augen. »Haben Sie je von der Regel der Zehntausend gehört, Bert?«
Bert runzelte die Stirn, schüttelte verwirrt den Kopf.
»Nun, dann will ich es Ihnen erklären. Die Regel der Zehntausend besagt, dass es ungefähr zehntausend Stunden dauert, um zu einem Experten zu werden, egal auf welchem Gebiet. Das gilt für das Erlernen einer Fremdsprache genauso wie für eine Ausbildung zum Klaviervirtuosen, sofern man das entsprechende Talent hat. Im Laufe meines Lebens bin ich auf vielen Gebieten ein Experte geworden. Als ich ein Junge war, hielt mein Vater mich in einem düsteren kleinen Verschlag gefangen und hat mich den verschiedensten Experimenten physischer und psychologischer Natur unterzogen. Zwei Jahre lang hat er mich dort eingesperrt, und das bedeutet, dass ich sozusagen gleich zweimal zum Experten für Schmerz geworden bin. Und jetzt denken Sie mal einen Moment darüber nach, Bert, auf wie unterschiedliche Weise ich Ihnen mein Fachwissen an Dr. Kelly demonstrieren könnte.«
Das Prickeln in Berts Armen war schlimmer geworden. Er konnte nicht mehr klar denken oder gar argumentieren. Er stand da, erstarrt in Unentschlossenheit, wie gebannt von Ackerman.
»Vielleicht beginnen wir mit einer kleinen Vorführung, Bert, was meinen Sie?«
Ackerman presste Jennifers linke Hand flach gegen die kugelfeste Scheibe, setzte die Mündung des Revolvers auf ihren kleinen Finger und drückte ab.
12
David öffnete die Tür zu Jennifers Büro einen Spaltbreit und rief ihren Namen. Er hoffte, dass sie sich so weit beruhigt hatte, um über das zu sprechen, was sie bedrückte. Eine Zeit lang war er über ihre Bemerkungen verärgert gewesen, aber das hatte sich bald gelegt. Jennifer war nicht zum ersten Mal explodiert. Sie brauchte normalerweise nicht lange, um sich wieder zu beruhigen und ihre Gedanken zu ordnen. Dann entschuldigte sie sich meistens oder tat zumindest so, als wäre nichts geschehen, und das genügte David vollkommen.
»Jennifer?«
Er hatte bereits am Tor angerufen und sich erkundigt, ob sie das Klinikgelände verlassen hatte, um nach Hause zu fahren. Zu solch später Stunde besuchte sie keine Patienten mehr. Sie müsste jeden Moment wieder da sein.
David betrat das Büro und schaute auf das Bild ihrer Familie auf dem Schreibtisch. Er nahm es in die Hand und betrachtete die Gesichter. Die Ähnlichkeit zwischen Jennifer und ihrer Mutter war frappierend. David fragte sich, ob Jennifer das Foto als Erinnerung an den Schmerz über den Tod ihrer Familie hier aufstellte. Manchmal hatte er den Verdacht, dass sie nicht loslassen konnte, weil sie der Meinung war, sie hätte an jenem grauenvollen Abend mit den anderen sterben sollen – das Schuldgefühl der Überlebenden. Doch er war kein Psychologe.
Er stellte das Foto zurück, setzte sich in Jennifers Sessel und fuhr sich mit der Hand über das kurz geschnittene Haar. Der exotische Blumenduft, den Jennifer so mochte, umgab ihn und weckte angenehme Erinnerungen an ihre gemeinsamen Nächte.
Seine Gedanken schweiften zu seiner zukünftigen Exfrau. Er hatte Jennifer erzählt, dass sie ihn betrogen hatte, als er im Irakkrieg gewesen war. Das war aber nicht die ganze Wahrheit. Unerwähnt blieb, dass er vor seiner Abreise ein Drogenproblem gehabt hatte. Und kein Wort davon, auf welche Weise er seine Frau von sich gestoßen hatte.
Er zog den Ring aus der Tasche, den er die letzten Wochen mit sich getragen hatte. Es war der Ehering seiner Mutter gewesen. David hatte ihn geerbt, als er erst siebzehn war. Er hatte überlegt, ihn seiner ersten Frau zu schenken, doch schon vor der Hochzeit waren ihm Bedenken gekommen. Irgendwie war es ihm nicht richtig erschienen, ihr den Ehering seiner verstorbenen Mutter zu geben.
Er fragte sich, ob seine erste Ehe daran gescheitert war, dass er sich nie vollkommen darauf eingelassen hatte. Ein Teil von ihm war stets sorgsam verschlossen geblieben. Bei Jennifer wollte er auf keinen Fall den gleichen Fehler begehen. Deshalb trug er den Ring nun immer bei sich, als ständige Mahnung, alles zu tun, damit es diesmal besser würde.
Jennifer
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