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Rachesommer

Rachesommer

Titel: Rachesommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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»Sie sind eingenickt.«
    Mittlerweile hatte er Krawatte und Sakko abgelegt. Der erste Knopf seines Hemds stand offen. Die Schweißflecken unter den Achseln störten sie nicht, aber die Waffe in seinem Schulterholster irritierte sie.
    »Wie geht es Ihnen?«
    »Danke.« Evelyn sah sich um. Der Hamburger Beamte saß immer noch kritzelnd in der hinteren Ecke. Pulaski hatte das Videoband angehalten. Auf der Mattscheibe flimmerte ein Standbild.
    »Wie lange war ich weg?«, fragte sie. Ihre Stimme krächzte.
    Pulaski reichte ihr ein Glas Wasser. »Etwa zwanzig Minuten. Sie hatten einen Albtraum. War es schlimm?«
    »Nicht der Rede wert.« Sie setzte sich auf. »Haben Sie etwas entdeckt?«
    »Ich fürchte, ich habe keine guten Nachrichten.«
    »Das wäre auch zu schön gewesen.« Sie rieb sich die Augen und nahm einen Schluck.
    »Sofern die Digitalanzeige auf diesem Foto stimmt« - Pulaski wedelte mit der Aufnahme der Geldautomatenkamera -, »wurde es Sonntagnacht, 31. August, geschossen.«
    »Datum und Uhrzeit stimmen«, sagte Evelyn. In jener Nacht war Rudolf Kieslinger in den Kanalschacht gestürzt und ertrunken.
    »Angeblich war Lisa in dieser Nacht in Wien. Aber die Videoaufzeichnung vom Montagmorgen, dem 1. September, beweist« - Pulaski reichte ihr eines der Videobänder -, »dass Lisa an der Gruppensitzung in Hamburg teilgenommen hat. Die knapp tausend Kilometer Distanz hätte sie in dieser Zeit unmöglich mit einem Wagen schaffen können.«
    »Mit einem Flugzeug?«
    »Nach Mitternacht gibt es keine Flüge von Wien nach Hamburg.«
    Evelyn starrte auf das Foto des blonden Mädchens im blauen Spaghettiträgerkleid. Wer bist du bloß? Die Phantomzeichnung aus Cuxhaven und das Bild dieser Frau waren identisch. Paul Smolle hatte sie als seine Besucherin identifiziert, und sie hatte ihm sogar ihren Namen genannt: Lisa. Es war zum Verrücktwerden.
    Sie faltete das Foto zusammen. »Ich jage also einem Phantom hinterher?«
    »Nicht unbedingt.« Pulaski grinste. »Zufällig habe ich etwas Interessantes auf den Bändern entdeckt.«
     
    57
     
    Pulaski wühlte durch die Kassetten, die er mit Post-its markiert hatte. Er legte ein Band in den Videorekorder. »Das ist eine der älteren Aufzeichnungen, vom Sommer 2006. Zunächst ist mir die junge Dame nicht aufgefallen.« Er blieb neben dem Fernsehgerät stehen und deutete mit dem Finger auf eine unscheinbare Frau, die drei Stühle von Lisa entfernt saß.
    »Das ist Sybil«, erklärte er. »Ich schätze, sie ist etwa ein bis zwei Jahre älter als Lisa. Achten Sie auf ihre Stimme. Jetzt spricht sie gleich …«
    Sie warteten eine Weile, dann meldete sich Sybil zu Wort.
    »Sie hat einen österreichischen Akzent«, stellte Evelyn fest.
    »Soviel ich aus den Bändern herausgehört habe, stammt sie aus Wien. Ein Straßenkind, das im Prater aufgewachsen ist, ohne Eltern, inmitten von Dieben und Zuhältern. Wie viele andere Patienten dieser Klinik wurde auch sie als Kind missbraucht. Irgendwie schlug sie sich durchs Leben und kam als Jugendliche nach Deutschland.«
    Evelyn dachte an den Wiener Prater, an die Zuckerwatte, die Achterbahn, das Riesenrad und die Geisterbahn mit dem grünen Monster, die sie als Kind öfter mit ihren Eltern besucht hatte. »Weshalb erzählen Sie mir das?«
    »Achten Sie darauf, was ein halbes Jahr später passiert.« Pulaski wechselte die Kassette. Diesmal saß Sybil neben Lisa.
    »Sie hat sich die Haare wachsen lassen.«
    »Nicht nur das, achten Sie auf ihren Akzent.«
    Evelyn beugte sich vor. Die Tonqualität war schlecht, doch trotz des Knisterns war Sybils deutsche Aussprache nicht zu überhören.
    »Sie nimmt Lisas norddeutschen Akzent an.«
    »Hören Sie genau hin. Sie imitiert sogar ihre Sprechweise und die Art der Betonung.«
    Evelyn spürte eine Gänsehaut im Nacken. »Das ist unheimlich.«
    Ein Knarren im Hintergrund ließ sie hochfahren. Der Beamte von der Hamburger Kripo hatte sich aus seinem Stuhl erhoben. Er blickte demonstrativ auf die Armbanduhr. »So, Ihre eineinhalb Stunden sind um.«
    Pulaski hob abwehrend die Hand. »Einen Moment noch.«
    »Ich sagte, Ihre Zeit ist um.«
    »Ja, verflucht, dieses eine Band noch.« Pulaski wechselte die Kassetten, während er auf Evelyn einredete. »Offensichtlich gibt es nicht viele Beziehungen in diesem Teil der Anstalt, doch Sybil hat sich mit Lisa angefreundet. Aus den Bemerkungen der Sozialarbeiter geht hervor, dass Sybil kreativ und überdurchschnittlich intelligent ist und ein herausragendes

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