Rachesommer
Evelyn fort. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Doktor Gessler unruhig wurde. Ihre Stirn lag in Falten - offensichtlich hörte sie diese Version der Geschichte zum ersten Mal. Langsam griff sie in die Manteltasche und holte eine Injektionsnadel hervor.
»Weiter«, flüsterte Pulaski.
»Der Kapitän hatte eine Tätowierung auf dem Unterarm. Er hieß Paul Smolle …«
Lisas Augen weiteten sich, und ihr Atem ging schneller.
»Hören Sie auf.«, unterbrach die Ärztin sie. »Es ist genug.« Vorsichtshalber zog sie die Folie von der Nadel.
»Das Schiff hieß Friedberg …«, setzte Pulaski nach.
Plötzlich schrie Lisa auf. Sie fuhr herum und kratzte Pulaski am Unterarm. Der Zauberwürfel polterte zu Boden. Noch während Pulaski sie an den Armen packte und versuchte, sie ruhig zu halten, war Gessler heran und injizierte Lisa offensichtlich ein Beruhigungsmittel in den Arm. Sogleich lösten sich Lisas verkrampfte Finger. Sie sank zurück ins Kissen, starrte zur Decke und atmete wieder ruhiger.
Die Ärztin griff nach der Stirn des Mädchens und fühlte seinen Puls. »Verlassen Sie das Zimmer … sofort!«, sagte sie, ohne aufzusehen.
Pulaski und Evelyn warteten im Gang, nachdem er den Polizeibeamten, der vor der Tür Wache schob, für einen Moment weggeschickt hatte.
»Weshalb helfen Sie mir eigentlich?«, fragte Evelyn.
»Gute Frage.« Pulaski starrte zum Ende des Gangs. »Auf der einen Seite gibt es die Morde an den misshandelten Kindern, auf der anderen Seite die bizarre Unfallserie unter den ehemaligen Passagieren, von der Sie mir erzählt haben. Durch die Kreuzfahrt sind unsere Fälle miteinander verbunden. Zurzeit stecke ich mit meinen Ermittlungen in einer Sackgasse.« Er sah sie an. »Ihre Spur weiterzuverfolgen ist im Moment meine einzige Chance, den grauhaarigen Mörder zu finden.«
Evelyn nickte. Was der Mann sagte, klang plausibel.
Nach wenigen Minuten kam Doktor Gessler heraus. Ihre Miene verhieß nichts Gutes. »Sind Sie verrückt?«, fuhr sie Pulaski und Evelyn an. »Ich dachte, Sie wollten sie zu dem Foto befragen, das sie angeblich in Wien zeigt. Stattdessen gefährden Sie mit Ihren Fragen die Ergebnisse jahrelanger Therapie. Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie viele Sitzungen nötig waren, damit Lisa bewusst wurde, was seinerzeit mit ihr passiert ist?«
Evelyn biss sich auf die Unterlippe. Sie waren mit der Befragung keinen Schritt vorangekommen - im Gegenteil, sie hatten sich nur den Zorn der Oberärztin zugezogen. Doch so leicht wollte sie nicht aufgeben. »Gibt es Videoaufzeichnungen von diesen Sitzungen?«
56
Der Therapieraum war so groß, dass ein runder Tisch mit sieben Stühlen in der Mitte Platz fand. An den Wänden standen Regale mit Büchern, ein Fernsehgerät und Schreibtafeln mit Kreidebehältern. In der Spielecke lagen Bauklötze und ein großer, gelber Hüpfball aus Gummi. Pulaski hatte die Jalousien der weiten Fensterfront heruntergezogen und die Lamellen gekippt, sodass die Strahlen der Mittagssonne den Raum nur noch spärlich erhellten.
Nach einem kurzen Gespräch mit der Oberärztin hatte sich ein Beamter der Hamburger Kripo zu Evelyn und Pulaski gesellt.
»Der interessiert sich nicht für die Bänder«, raunte Pulaski Evelyn zu, »sondern möchte uns nur auf die Finger sehen.«
Evelyn wusste nicht einmal, wie der Hamburger Beamte hieß. Der Mann Anfang dreißig - Pulaski hatte ihn als »Sesselpupser« bezeichnet - setzte sich in eine Ecke und kritzelte wichtigtuerisch auf einen Block.
Natürlich bekamen sie die Videobänder von Lisas Einzelsitzungen mit ihrem Therapeuten nicht zu sehen. Pulaski hatte sich ausführlich mit Doktor Gessler über die ärztliche Schweigepflicht unterhalten und dabei den Kürzeren gezogen. Doch die Oberärztin gestattete ihnen, zumindest einen Blick auf die Bänder der morgendlichen Gruppensitzungen zu werfen. Diese fanden jeweils montags statt, und eine Sozialarbeiterin sprach im Therapieraum mit den Bewohnern der Station 46 darüber, wie es ihnen ging oder ob es ihnen an etwas mangelte. Die Videos der letzten zwei Jahre umfassten dreiundneunzig Sitzungen zu jeweils dreißig Minuten, die mit einer auf einem Stativ montierten Kamera festgehalten worden waren, damit sich die jeweiligen Therapeuten die Bänder anschließend ansehen konnten. Doktor Gessler hatte ihnen neunzig Minuten zugesagt. Danach wurde der Raum angeblich für eine Sitzung benötigt, doch Evelyn zweifelte an dieser Behauptung. Gessler war zwar
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