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Rachesommer

Rachesommer

Titel: Rachesommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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aufzuscheuern, das ihre Handgelenke aneinanderschweißte, durch den Eisenring verlief und irgendwo oben in der Dunkelheit verschwand. Der Eisenring ragte aus einer Metallplatte mit scharfen Kanten. Ihre Hände bluteten, dennoch rieb sie das Seil unaufhörlich an der Kante.
    Immer wieder dachte sie an seine Drohung, falls er sie bei einem Fluchtversuch erwischen sollte. Sie musste sich beeilen und schabte noch heftiger mit dem Handgelenk über die Platte, denn manchmal kam er mitten in der Nacht zurück.
    Mittlerweile war das Wimmern ihrer Schwester im Nebenraum verstummt. Es mussten Stunden vergangen sein. Endlich riss das Seil. Ihre Schultern schmerzten. Sogleich zog sie sich mit zittrigen Fingern das Klebeband vom Mund und erbrach sich, als sie das Blut an ihren Fingern roch.
    Im Dämmerlicht tastete sie sich bis zur Tür. Die Klinke quietschte erbärmlich auf. Abgeschlossen. Sicherheitshalber hielt sie den Atem an und lauschte. Nichts. Dann wandte sie sich an die Wand, hinter der Sandras Raum lag.
    Sie klopfte an die Mauer. Die Steine klangen hohl.
    »Sandra?«, wisperte sie.
    Keine Antwort. Bestimmt hatte er ihr auch den Mund zugeklebt und die Hände auf den Rücken gefesselt.
    Sie tastete sich ans andere Ende des Raums, wo das Mondlicht durch die schmale Fensterluke fiel. Kein Gitter davor. Wenn sie einige Holzpaletten zusammenschob, konnte sie das Fenster erreichen. Es hatte einen Griff. Mit etwas Glück würde sie sich durch die Öffnung zwängen können. Sie spähte hinaus. Kein Scheinwerferlicht. Sie musste sich beeilen. Hoffentlich kam er nicht ausgerechnet in dieser Nacht zurück.
    Sie hätte nicht gedacht, dass sie tatsächlich die Kraft aufbringen würde, um sich zur Fensteröffnung emporzuziehen. Aber irgendwie schaffte sie es, ohne die Holzpaletten umzustoßen. Sie scheuerte sich die Ellenbogen an der Mauer auf, dann war sie oben. Mühsam schob sie ihren Oberkörper ins Freie und grub ihre Hände in die Erde. Wie herrlich der Waldboden duftete! Sie zwängte sich durch die Öffnung und schlich an der Hausmauer entlang. Vor dem nächsten Kellerfenster hockte sie sich ins Gras und suchte nach einem Stein. Endlich fand sie einen und schmetterte ihn gegen die Scheibe. Erst nach dem vierten oder fünften Schlag entstand ein Sprung. Hastig arbeitete sie weiter, bis sie das Glas vollends zertrümmert hatte.
    Vorsichtig beugte sie sich in den Raum.
    »Ich hol dich hier raus«, rief sie in die Dunkelheit.
    Während sie an der Innenseite nach dem Fenstergriff tastete, fiel das Scheinwerferlicht eines Wagens durch den Wald. Sie erstarrte. Im nächsten Moment hörte sie das Geräusch des Motors. Wieder fielen ihr die Worte des Mannes ein. Er würde ihre Schwester töten, falls sie floh. Er log. Sie wusste, dass er log. Er musste lügen, um ihren Willen zu brechen und sie zu beherrschen. Sollte sie in den Raum zurückklettern? Nein. Sie musste weg! Sobald er bemerkt hatte, dass sie fort war, würde er in Panik geraten und beginnen, sie zu suchen. Es war ein Wettlauf. Ihr Wettlauf! Sie schärfte sich ein, dass sie ihn gewinnen musste, um Sandra zu retten; und sie würde nur diese eine Chance erhalten.
    Sie löste sich aus der Erstarrung.
    »Ich muss weg«, flüsterte sie. »Aber ich hol dich hier raus. Vertrau mir.«
    Die Autoreifen knirschten bereits an der Rückseite des Hauses. Sie stand auf, ließ ihre Schwester mit der Bestie allein zurück und lief davon. Die Hütte lag irgendwo im Wald. Sie stolperte durch Büsche, über Wurzeln, lief von einem Baum zum nächsten, bis sie im Mondschein einen Wanderweg entdeckte, dem sie folgte.
    Er hat gelogen, er hat gelogen, sagte sie sich immer wieder vor. Es war wie ein Gebet, das sie vor sich hinmurmelte, während die Zweige ihr Gesicht zerschnitten.
    Im Morgengrauen stieß sie auf die Häuser einer Siedlung. Sie kannte die Gegend. Die Ortschaft lag nicht einmal weit von zu Hause entfernt. Halb erfroren, hungrig, völlig verdreckt und mit zittrigen Knien klopfte sie an eine Tür, bis endlich jemand öffnete. An den Rest konnte sie sich nur noch dunkel erinnern. Eine heiße Tasse Tee, eine warme Decke, Polizisten, die sie befragten und denen sie die Jagdhütte und den Kastenwagen beschrieb. Obwohl es ihr wie Wochen vorkam, hatten die Beamten die Hütte binnen weniger Stunden gefunden. Alles lag im Dunkel ihrer Erinnerung - doch eines wusste sie noch genau: Der Mann hatte nicht gelogen.
     
    »Evelyn? Evelyn?« Sie schreckte hoch.
    Pulaskis Hand lag auf ihrer Schulter.

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